Augenmerk auf erzwungene Ehen

Auch in Vorarlberg kommt es immer wieder zu möglichen Fällen.
Schwarzach Es geht um eine 15-Jährige, die bei ihren Eltern lebte und eine berufsbildende Schule besuchte. Sie war Gewalt ausgesetzt. Nach Angaben der Kinder- und Jugendhilfe ist die Jugendliche lesbisch. Eine andere junge Frau, eine Alleinerzieherin in Ausbildung, suchte wegen Partnergewalt um Hilfe an. Ihr Alter bleibt unbekannt. Das sind zwei von drei Verdachtsfällen von Zwangsheirat, die 2021 in Vorarlberg an die Kinder- und Jugendhilfe gemeldet wurden. Der dritte ließ sich nicht mehr auswerten. Österreichweit waren es 54. Für einen Forschungsbericht im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds ÖIF befragte das Institut für Konfliktforschung bundesweit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe zur aktuellen Situation zu Zwangsehen.
Studienautorin Birgit Haller, wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Konfliktforschung, gibt zu bedenken, dass die Kinder- und Jugendhilfe nur Personen bis zum Alter von 18 Jahren unterstützt. Viele Opfer seien aber älter. Als Ergebnis der Befragung könne indes von einer Größenordnung von insgesamt rund 200 Fällen von Zwangsheirat in Österreich pro Jahr ausgegangen werden. Der Forschungsbericht nennt als häufige Motive die Kontrolle des Verhaltens beziehungsweise der Sexualität von Mädchen und Frauen. Oft spielten Konzepte wie die „Ehre“ der Familie, traditionelle Geschlechtervorstellungen sowie die Jungfräulichkeit vor der Ehe eine Rolle. Auch die „Bekämpfung“ von tatsächlicher oder vermeintlicher Homosexualität oder die Zwangsheirat als Konsequenz einer Vergewaltigung, um die „Ehre“ wiederherzustellen, könnten Gründe sein. Zudem seien häufig ökonomische Überlegungen bedeutsam.
Starke familiäre Kontrolle
Im Land berät unter anderem der Verein Amazone gefährdete und betroffene Mädchen. „Grundsätzlich kommen Fälle von Zwangsehen in der Mädchenberatung selten vor“, sagt Geschäftsführerin Angelika Atzinger. „Aber sie kommen vor.“ Die Fälle ließen sich meistens nicht miteinander vergleichen und seien sehr unterschiedlich gelagert. Atzinger spricht von einem „sehr schwierigen Thema“, zumal die jungen Frauen zum Teil auch unter starker familiärer Kontrolle stünden. Umso wichtiger sei die anonyme und vertrauliche Beratung. „Bei uns bestimmt die Klientin, wie sie verläuft und ob zum Beispiel noch andere Personen hinzugezogen werden.“ Der Verein Amazone sei keine Kriseninterventionsstelle. „Wenn Gefahr in Verzug ist, vermitteln wir weiter.“ Etwa an die Kinder- und Jugendhilfe oder die ifs Gewaltschutzstelle.
Auch beim Frauen-Informationszentrum Vorarlberg „femail“ ist Zwangsehe ein Thema. Beraterin Cigdem Gökmen-Erden erzählt auf VN-Anfrage zum Beispiel vom Fall einer jungen Frau Mitte 20. „Man hätte sie wirklich zwangsverheiratet. Bis zur letzten Minute wusste ich nicht, ob sie es aus dem Haus schafft.“ Die junge Frau sei in eine Schutzeinrichtung gekommen, mittlerweile lebe sie woanders. Kontakt zur Familie bestehe keiner mehr. Der Prozess war langwierig. „Es dauerte über ein Jahr, bis sie sich diesen Schritt zu machen getraut hat. Es gab Wochen, da kam überhaupt kein Anruf, keine Nachricht.“
Die „femail“-Beraterin verweist auf eine Informationsbroschüre in Kooperation mit dem Verein Amazone. „Es braucht aber mehr finanzielle Fördermittel für Kampagnen“, betont Gökmen-Erden. In Tirol gebe es auch mittlerweile eine Fachstelle für Zwangsheirat. In Vorarlberg ist das nicht der Fall.
Die auf Beratung und Unterstützung spezialisierten Einrichtungen sind aus Sicht der Vorarlberger Kinder- und Jugendanwaltschaft fachlich gut aufgestellt und können wichtige Arbeit leisten. „Dennoch muss hinterfragt werden, weshalb in Österreich nur eine so geringe Anzahl an Zwangsheiraten bekannt ist und in welchen Bereichen der Fokus geschärft werden muss, um solche Fälle aufdecken beziehungsweise bereits im Vorfeld verhindern zu können“, meint Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer. Im Hinblick auf Präventionsmaßnahmen brauche es – wie von vielen im Rahmen der Studie Befragten bereits gefordert – mehr Schulungen in diesem Bereich. „Nur wenn eine Zwangsheirat auch von Fachkräften erkannt wird, kann entsprechend geholfen werden und können weitere Präventionsprojekte zielgerichtet entwickelt werden.“
Keine Anzeige gewünscht
Doch was geschah mit den Vorarlberger Betroffenen, die im Forschungsbericht genannt werden? Der Fall der 15-Jährigen konnte letzten Endes trotz entsprechender Bemühungen nicht geklärt werden. Das Mädchen wünschte keine Strafanzeige. Die andere junge Frau hatte sich schon in der Vergangenheit an den Verein Orient Express um Hilfe gewandt. Tatsächlich handelte es sich in diesem Fall um eine Zwangsheirat, die schon mehrere Jahre zurücklag. Anzeige erstattete die Betroffene nicht. Sie hatte sich aber mittlerweile erfolgreich vom Partner getrennt, lebte zunächst in einem Frauenhaus und dann eigenständig mit ihrem Kind gemeinsam. Den Kontakt zur Familie kappte sie vollständig. VN-mef, VN-ram
„Solche Fälle kommen in der Mädchenberatung selten vor. Aber sie kommen vor.“
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