Die erste Lüge
Mann und Frau hatten ein Kind, Rosa. Sie war fünf Jahre alt und ein Zauber für die Eltern.
Es geschah, dass die Mutter an ihrer heiligen Zimmerlinde abgebrochene Blätter in der Erde fand. Wie das? Hatte ihre Rosa die Blätter abgezwickt?
„Rosa“, rief sie, „komm zur Mama!“ Sie führte das Kind zur Zimmerlinde und fragte: „Warst du das?“
„Nein“, sagte Rosa, „war ich nicht.“
„Du kannst ruhig zugeben, dass du es warst. Sonst ist das eine Lüge. Ich bin zwar traurig wegen der Pflanze, aber ich verstehe dich. Jeder lügt einmal. Also, Rosa?“
„Nein!“
„Gib es zu! Wer soll das denn sonst gewesen sein?“
„Die Katze“, sagte Rosa.
„Mach es nicht noch schlimmer.“ Die Mutter unterdrückte ihren Zorn. Das Kind hatte ihr noch nie Anlass zu Ärger gegeben. „Rosa!“
„Nein, nein!“ Rosa stampfte auf und rannte weg.
Am Abend erzählte die Frau ihrem Mann von der Lüge. Der lachte nur und sagte: „Jeder lügt ein erstes Mal. Das ist ein Zeichen von Selbstständigkeit. Eigentlich müsstest du sie loben!“
Die Mutter hatte sich so verrannt, dass sie jedes Mal, wenn ihr Rosa unter die Augen trat, wieder davon anfing.
Der Mann legte ihr die Hand auf die Stirn.
„Wann war deine erste Lüge?“, fragte er.
Die Frau dachte nach, und es fiel ihr nicht ein. Natürlich hatte sie gelogen, es hieß ja, jeder Mensch lügt mindestens drei Mal am Tag, aber an das erste Mal konnte sie sich nicht erinnern.
„Sie könnte es doch zugeben“, sagte sie. „Sie weiß, ihr wird nichts geschehen.“
Da erzählte ihr der Mann, warum es nicht mehr möglich ist, nach ein paar Lügen die Wahrheit zu sagen.
„Ich war zum Babysitten bei Bekannten, damals vierzehn, ich rauchte heimlich. Das Baby schlief, und ich setzte mich vor den Fernseher, zündete mir eine an und fühlte mich wie ein Mann. Da schrie das Kind, ich muss wohl die Zigarette schief in den Aschenbecher auf dem Tischchen gelegt haben, denn als ich mit dem Baby im Arm zurückkam, war die Zigarette herausgefallen und hatte eine markante Brandwunde in den Tisch gesengt. Ich legte das Baby auf das Sofa und suchte nach Möbelpolitur und einem Lappen, rieb dann wie verrückt am Brandfleck herum, vergebens. Ich stellte den geputzten Aschenbecher darauf. Am nächsten Tag rief die Frau des Bekannten bei meiner Mutter an und fragte, ob mir dieses Missgeschick passiert sei. Meine Mutter war empört und sagte, der Emil raucht nicht. Der Bekannte traf mich auf dem Schulweg und sagte: Du kannst es ruhig zugeben, Emil, dass du das warst, ist ja auch nicht so schlimm, du kennst ja die Frauen, die sich über jeden Fleck aufregen. Nein, sagte ich, war ich nicht, ich rauch ja nicht einmal. Jedes Mal, wenn ich nach dem Brandloch gefragt wurde, und das war oft, log ich es weg. Einmal steckte mir der Bekannte eine Schachtel Marlboro zu und sagte: Ich hab’s zugegeben, ich war’s.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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