Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Seine Passion

Vorarlberg / 06.06.2023 • 19:35 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Einem Mann von neunzig Jahren mit gutem Ansehen, war es wichtig, nach außen hin den guten Familienvater zu spielen. Das gelang ihm immer weniger. Seine Frau sagte, hört denn deine Sucht nie auf. Sie meinte seine Sucht nach Frauen. Sie hatten ein Arrangement. Ihr war seine Position und die damit verbundenen Freundlichkeiten wichtig. Durch ihn war sie jemand. Nur jetzt im hohen Alter, dem seinen und dem ihren, dachte sie, sein Sexleben könnte peinlich für ihn und die ganze Familie werden. Seine Töchter, die ihn ja liebten, könnten sich für ihn schämen.

Er sah es nicht so. Er badete in Öl, zog seinen besten Anzug an, parfümierte sich und setzte sich in seinen treuen Mercedes. Er fuhr gemächlich. Am Rande einer Stadt stieg er aus und ging auf die Terrasse eines feinen Hotels. Man kannte ihn dort. Er sprach Frauen an, ob sie mit ihm ein Getränk genießen möchten. Die meisten drehten sich weg. Seine Krawatte hatte Flecken. Kann sein, dass einige Geld verlangten. Vor so einer verbeugte er sich, und sie gingen auf ein Zimmer. Als er auf ihre üppige Figur sah, wollte er sie nur nackt anschauen, mehr gar nicht. Er blieb im Anzug auf dem Stuhl vor dem Sekretär sitzen. Er rührte sie nicht an. Eine Stunde, wie ausgemacht. Als sie sich drehte und wendete und ihn zu sich herlockte – „Komm, mein Alterchen!“ –, fühlte er sich gekränkt. Er gab ihr die verlangten 500 Euro, zog sich die Krawatte ab und warf sie auf das Bett. Immerhin war es das erste Mal gewesen, dass er Geld für eine Dame bezahlt hatte.

Wehmütig dachte er zurück, als die Frauen sich um ihn sammelten und ihn hochleben ließen. Seit er zum Mann geworden war, lief er den Frauen nach, und sie liefen ihm nach. Er heiratete, hatte Kinder. Er wollte ein Familienvater sein und gleichzeitig ein Verführer. Seine Frau sagte, dass sie sich niemals scheiden lassen werde, ihm war das recht. Solange sie ihm nicht Weg stand.

So ging das, bis er neunzig war. Da verließ ihn alle Kraft. Die Lust blieb.

Einen Monat vor seinem Tod sah er ein Hochzeitspaar. Die Braut stand auf einer Schaukel, der Bräutigam gab ihr den Schwung. Der alte Verführer saß auf einer Bank und starrte auf die Braut. Jedesmal, wenn sie den höchsten Punkt erreicht hatte, klatschte er in die Hände. Die Braut trug keinen Slip. Das war seine letzte Freude.

Der Lockruf eines Buchfinks nervte ihn.

„Wehmütig dachte er zurück, als die Frauen sich um ihn sammelten und ihn hochleben ließen.“

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.