Normalbürger:innen
Sind Sie eigentlich normal? Wahrscheinlich lautet Ihre Antwort: Ja. Würden Sie dies auch über Ihre Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde sagen? Vermutlich fallen Ihnen da schon einige Ausnahmen von der Regel ein. Also eher: Nein. Alles eine Frage des Standpunktes und der Definition. Im Moment versucht die ÖVP mit Johanna Mikl-Leitner als Speerspitze die „normal denkenden“ Menschen von den anderen zu trennen. Wobei offen bleibt, was jene „Nicht Normalen“ eigentlich kennzeichnet.
Ich würde mich selbst als normal bezeichnen. Obwohl ich gendergerechte Sprache als einen wichtigen Fortschritt erachte. Es freut mich sehr, wenn vor allem Politiker von Wählerinnen und Wählern, Sportlerinnen und Sportlern, Expertinnen und Experten oder Bürgerinnen und Bürgern sprechen. Gerne können sie dies auch mit Binnen-I, Gender-Stern oder Doppelpunkt ausdrücken. Jede Form, die Frauen in unserer Gesellschaft sichtbar macht, ist mir willkommen.
Warum ich in meiner Kolumne nicht durchgehend gendere? Weil die knapp 2500 Buchstaben ohnehin immer zu wenig sind und mir Inhalt und Verständlichkeit oft wichtiger erscheinen. Ich bin eine pragmatische oder auch situationselastische Normale. Für mich ist es normal, zwischen Zielen, Werten und Mitteln immer abzuwägen. Denkverbote wären hingegen nicht normal. Doch leider wird es hier ein wenig kompliziert. Da Respekt und Wertschätzung gegenüber allen anderen den gemeinsamen Umgang prägen sollen, finde ich es normal, wenn etwa sexistische, rassistische, antisemitische oder homophobe Witze Kopfschütteln statt Schenkelklopfen als Reaktion hervorrufen. Beziehungsweise wenn die Leugnung des menschengemachten Klimawandels oder des medizinischen Nutzens von Impfungen aller Art nicht als gleichwertige Position in einer Diskussion Beachtung findet.
Über allem steht die Frage, ob normal zu sein generell so erstrebenswert ist? Sollten wir nicht viel öfter Ungewöhnliches, Neues, anderes denken und ausprobieren? Wären sonst nützliche und vermeintlich unnötige Dinge wie die Buchdruckpresse, das Internet, das E-Auto oder allgemein die Kunst entstanden? Wären zivilisatorische Leistungen wie das allgemeine Wahlrecht, die Abschaffung der Sklaverei, die Sozialversicherung jemals erdacht und erkämpft worden ohne Menschen, die von der Allgemeinheit als „nicht normal“ gebrandmarkt wurden?
Wenn Mikl-Leitner so gebetsmühlenartig ihren Vertretungsanspruch auf die „normal denkenden“ Menschen wiederholt, vergisst die niederösterreichische Landeshauptfrau, dass gerade die Nicht-Normalen oft ein großer Gewinn für uns alle sind. Und dass wir alle gleichzeitig normal und nicht-normal sind.
Dass wir aber auf jeden Fall unsere unterschiedlichen Lebensweisen und Ansichten in einer Demokratie nicht nur aushalten, sondern uns darüber hinweg austauschen und verständigen müssen. Denn höchstwahrscheinlich trifft Mikl-Leitner als Vertreterin der politischen Elite die Verachtung gegenüber den „Nicht-Normalen“ als Erste. Oder geht es der ÖVP ganz banal nur darum, ab nun ihre eigene Ideologie als die einzig „normale“ besser zu verkaufen?
„Sollten wir nicht viel öfter Ungewöhnliches, Neues, anderes denken und ausprobieren?“
Kathrin Stainer-Hämmerle
kathrin.stainer-haemmerle@vn.at
FH-Prof. Kathrin Stainer-Hämmerle, eine gebürtige Lustenauerin, lehrt Politikwissenschaften an der FH Kärnten.
Kommentar