Thomas Matt

Kommentar

Thomas Matt

Lebensbilanzen

Vorarlberg / 02.08.2023 • 07:00 Uhr / 2 Minuten Lesezeit

Sie haben Klassentreffen. Er sagt es beiläufig. Aber sie hat das Haarwuchsmittel längst entdeckt. Er hat den kahlen Stellen den Kampf angesagt. Sie haben vier Monate Zeit, sich zu bedecken. Mehr als 100 Tage! Das sollte reichen. Beim Rasen klappt das auch. Er hat den Samen selbst ausgebracht. Mit „sechs bis 28 Tagen“ hat der Internetratgeber die Keimzeit berechnet. Dann sollten die ersten Halme sprießen. Das war im Frühjahr. Im Herbst freilich geht es langsamer oder gar nicht. Unwillkürlich tastet seine Hand den Hinterkopf ab. Seine Augen bleiben an der Schublade hängen, die eine Reserveflasche Haarwasser verbirgt.

Ob alle kommen werden? Immer öfter geht er in Gedanken die Schulbänke durch. Manche Namen gibt der Nebel der Erinnerung nur zaghaft frei. Dann erscheinen Bubengesichter. So hat er sie abgespeichert. Ganz anders seine Freunde: Er sieht sie regelmäßig. Sie sind wie er in die Jahre gekommen. Werden alte Männer auf Buben treffen? Der Gedanke amüsiert ihn. Was aus ihnen wohl geworden ist? Verheiratet, geschieden, verwitwet? Mit Familie oder allein? Reich oder arm? Erfolgreich? Wie bemisst sich Erfolg? In Autos, Kleidung, Aussehen? Klassentreffen ziehen Bilanz. Dann liegen die Vermögensbestandteile auf dem Tisch. Halten sich bei ihm Aktiva und Passiva die Waage?

Gestern hat er die Mutter eines alten Freundes besucht. Sie ist jetzt 91. Eine stolze Frau. Schupft den Haushalt noch immer allein. Kocht, wäscht und bügelt, bestellt den Garten. Und wenn sie morgens aufwacht, dann kreisen ihre ersten Gedanken um die Familie: Sind alle gesund? Haben alle, was sie brauchen? Lernen die Urenkel brav? Das erzählt sie mit einem fast entschuldigenden Lächeln. Lebensbilanzen können so verschieden sein. Und manche nehmen sich den anderen gegenüber ganz klein und lächerlich aus. Wie eine Flasche Haarwasser.