Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Fremde Menschen küsst man nicht

Vorarlberg / 18.09.2023 • 19:18 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Herr Rubiales versteht die Welt nicht mehr. Da gehen doch nur seine übergroßen Emotionen nach dem WM-Sieg der Spanierinnen gegen England mit ihm durch – der spanische Fußballpräsident packt den Kopf der Kapitänin Jennifer Hermoso mit beiden Händen und küsst sie auf den Mund. Und dann folgt ein Aufstand der Spielerinnen und internationale Aufregung über sein Verhalten. Die spanische Staatanwaltschaft stellt gar einen Strafantrag, in dem der Verdacht der sexuellen Aggression und Nötigung geklärt werden soll. Vergangene Woche tritt Luis Rubiales widerwillig zurück, er behauptet, Hermoso habe dem Kuss zugestimmt.

Die Spielerin sagt, sie habe sich „als Opfer einer impulsiven, sexistischen und unangebrachten Handlung gefühlt, der ich nicht zugestimmt habe“. Was in Bewegt- und Standbild jedenfalls festgehalten ist: Wie Rubiales den Kopf von Hermoso festhält und sie küsst. Hier ein paar grundsätzliche Gedanken zu Übergriffen, die manche nicht als solche verstehen wollen.

Selbstdisziplin

Fremde Menschen küsst man nicht, so einfach fängt es schon einmal an. Egal, auch wenn man gefühlstechnisch total überwältigt ist, man nimmt nicht ihren Kopf in die Hände und küsst sie auf den Mund. Professionelle Selbstdisziplin muss man von einem Funktionsträger erwarten können. Ja, das würde auch für eine Präsidentin und einen Spieler gelten. Und nein, ein Präsident ist kein Freund oder Vertrauter, der sich eine so intime Geste – wenn von der Frau erwünscht – erlauben dürfte.

Eine Machtfrage

Bei solchen Vorkommnissen geht es immer auch um Macht. Wenn einer Frau einer ihrer Kollegen körperlich zu nahe kommt, ist das problematisch, bei einem hie­rarchisch Höhergestellten ist es eine Form des Machtmissbrauchs. Er ist der Boss, er nimmt sich ihr gegenüber etwas heraus. Es ist eine Machtdemonstration, gerade auch vor Publikum. Sie hat brav mitzuspielen und keinen Ärger zu machen, es ist ja gar nicht böse gemeint.

Übergriffig

Es fehlt noch immer an Bewusstsein für die Grenzen anderer. Das zeigt sich nicht nur daran, wie der Präsident die Spielerin küsst, sondern auch daran, wie er sich auf der VIP-Bühne im Beisein von Spaniens Königin Letizia und deren 16-jähriger Tochter Sofia in den Schritt fasst, als er seinem Trainer zum Erfolg der Spanierinnen gratuliert.

Solche Gesten kann man gerne alleine daheim vorm Spiegel machen, wenn man das braucht; in der Öffentlichkeit sind sie übergriffig gegenüber anderen, die auf derartige private Einblicke nicht scharf sind – geschätzt 98 Prozent der Menschheit.

Und es ist weder übertrieben, noch aufgebauscht, wenn Frauen respektvoll behandelt werden möchten.

„Er ist der Boss, er nimmt sich ihr gegenüber etwas heraus. Es ist eine Machtdemonstration, gerade auch vor Publikum.“

Julia Ortner

julia.ortner@vn.at

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.