Johannes Huber

Kommentar

Johannes Huber

An Österreich zweifeln

Vorarlberg / 29.09.2023 • 20:02 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Karl Nehammer ruft dazu auf, an Österreich zu glauben, nährt jedoch Zweifel: Es wird zu viel über Armut gejammert, vermittelt er. Dabei könnten Frauen mehr arbeiten und Geld verdienen, könnten Eltern ihre Kinder zu McDonald’s schicken, damit sie wenigstens zu einem billigen, lauwarmen Hamburger kommen. Und überhaupt: Die Sozialpartnerschaft stellt ein Entwicklungshemmnis dar, so die Botschaft des Bundeskanzlers und ÖVP-Chefs: Überall müssen Gewerkschafter und Kämmerer mitreden.

Das Ganze ist nicht nur eine emotionale Antwort auf den neuen SPÖ-Chef Andreas Babler, der so tut, als würde es eine Massenverarmung geben. Es ist auch eine Offenbarung: Karl Nehammer sieht Unzulänglichkeiten bei den Bürgerinnen und Bürgern und darüber hinaus verkorkste Machtstrukturen. Er wendet sich ab von einem Grundkonsens der Zweiten Republik, wonach sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter um Lösungen in vielen Bereichen kümmern sollen, und erteilt damit de facto auch schon einer SPÖ-ÖVP-Koalition nach der nächsten Wahl eine Absage. Das kann man machen. Ob es klug ist, sich so schon der klar führenden Herbert-Kickl-FPÖ auszuliefern, ist eine andere Frage.

In der Sache kann man Nehammer nicht in allem widersprechen. Es gibt Leute, die nicht leisten mögen und sich mit staatlichen Hilfen begnügen. Für ein Leben in der Hängematte reicht das jedoch nicht. Die Masse leistet, was für sie notwendig, möglich und vernünftig ist. Größer ist das Problem, was der Staat nicht leistet: Zu oft Kinderbetreuungsangebote, die Mehrarbeit erlauben, sowie ein Steuer- und Abgabensystem, das dazu ermuntert, mehr zu verdienen.

Im Übrigen fehlt Karl Nehammer ein Gegenentwurf zu linken Ansätzen von Andreas Babler: Dem bürgerlichen Zugang zu Eigenverantwortung könnte es entsprechen, Menschen zu Leistungsfähigkeit zu ermächtigen. Das würde sogar immer wichtiger werden, es zu erreichen, würde gleichzeitig immer anspruchsvoller werden. In Vorarlberg hat es einen breiten Konsens gegeben, sich durch eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen darum zu bemühen. Es wäre vielleicht ein Ansatz. Die Antwort von Nehammers Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) zu derlei ist jedoch frustrierend: „Grundsatzdiskussionen bringen nichts.“

Das ist dazu angetan, nicht an Österreich zu glauben, sondern in Hoffnungslosigkeit zu verfallen: So vieles gehört neu gedacht, die Bereitschaft zu Veränderungen müsste größer sein denn je. Für Selbstgefälligkeit und ein Teile-der-Bevölkerung-Niedermachen ist weniger Platz denn je.

Nehammer lenkt davon ab, dass das Land dabei ist, seinen Vorsprung in internationalen Vergleichen zu verspielen. Dass die mit Abstand größte Wohlstandsgefährdung vom Staat ausgeht. Dass die „Koste es, was wolle“-Politik, die seit dreieinhalb Jahren läuft, den Reformdruck weiter erhöht, diesbezüglich aber nicht einmal Vorstellungen von ihm selbst erkennbar sind. Dass Pensionen, Pflege, Bildung und vieles andere mehr nur dann zumindest auf dem bestehenden Niveau erhalten werden können, wenn er und seinesgleichen liefern und versuchen, Bürgerinnen und Bürger zu Beteiligten zu machen. Und nicht zu Gegner:innen.

„Nehammer lenkt davon ab, dass die mit Abstand größte Wohlstandsgefährdung vom Staat ausgeht.“

Johannes Huber

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