Der Lebenskünstler
Wo schieße ich hin, fragte sich der Mann, den ich Lebenskünstler nenne.
Ihm wurde die Diagnose MS gestellt. Also, wo schieße ich hin? In den Kopf oder ins Herz? Er musste sich eine Strategie zurechtlegen.
Also schrieb er eine Liste. Immer schon hatte er Listen geliebt.
Auf der rechten Seite stand: MS
Auf die Herzseite schrieb er:
Ich habe eine liebe Freundin.
Ich habe Kinder, die fast immer brav sind.
Es gibt gutes Wasser bei uns.
Gute Luft.
Vier Jahreszeiten, eine schöner als die andere.
Kein Tsunami.
Einen Supermarkt, eigentlich das Schlaraffenland.
Wir sind kein 3.Weltland.
Ein eigenes Auto, obwohl ich nicht mehr fahren kann.
Gute Freunde.
Genügend Geld.
Keine Schulden.
Was noch?
Sicher noch mehr, was mir jetzt nicht einfällt.
So richtete es sich der Lebenskünstler ein. Er schaute am Morgen in den Himmel, er schaute am Abend in den Himmel. Er sah Sterne und machte sich kundig. Er schaute in das Sternenlexikon und bestimmte die Himmelskörper. Den ganzen Tag trug er den Pyjama. Kündigte sich Besuch an, bat er um Bedenkzeit. Er ging unter die Dusche, hielt sich an den Griffen fest.
Er gab sich selbst die Spritze jeden Tag. Was für ein Luxus, eine Spritze zu haben. Was für ein Luxus, krankenversichert zu sein. Solidarität, was für ein gutes Wort.
Er nahm den Besuch an. Deckte den Tisch, ein weißes Tischtuch noch von seiner Mama, das gute Geschirr. Kuchen bringt der Besuch mit.
Was für Kuchen, wurde gefragt. Der Lebenskünstler mochte jeden Kuchen. Er liebte süß. Er legte seine Lieblings-CD auf, etwas Amerikanisches. Er war ein Musikkenner.
Er öffnete das Fenster. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Mähen konnte er nicht mehr, es wurde für ihn gemäht. Er hielt eine Büchse mit Trinkgeld bereit. Jedem, der bei ihm anläutete und um Geld fragte, bediente er aus seiner Trinkgeldbüchse. Trinkgeld war das falsche Wort. Spende. Gabe, jedenfalls etwas, was den Leuten half, sollten sie bei anderen Menschen noch etwas dazu bekommen. Heute ein weißes Hemd. Sprühte sich mit Eau de Toilette ein. An seinem Hemd fehlte ein Knopf. Es würde eine Frau oder einen Mann geben, die oder der den Knopf annäht. Er hatte seine Knöpfe immer selber angenäht.
Er würde seine Gäste bitten, nicht zu lange zu bleiben. Schnell war er müde.
Seine Tochter kommt am Mittwoch und schneidet ihm die Haare, obwohl sie keine Frisörin ist. Es wird passen. Er war nie der Schönste.
Ich sagte ihm, er sei ein Lebenskünstler, das hörte er gern. Ich brachte ihm die Callas mit Casta Diva, sie sang, und wir weinten beide.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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