3000 Patienten missbraucht

Psychiatrie-Patienten in der Schweiz über Jahre für Medikamententests ausgenutzt.
Kreuzlingen An der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen im Schweizer Kanton Thurgau sind zwischen 1946 und 1980 an mindestens 3000 Patienten Medikamente getestet worden. Dreh- und Angelpunkt war der Arzt und Klinikdirektor Roland Kuhn (1912-2005), der eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung des ersten Antidepressivums Tofranil spielte. Ein Forschungsbericht gibt Einblick in dieses dunkle Kapitel. Die Studie wurde am Montag im Thurgauer Staatsarchiv in Frauenfeld vorgestellt. Ein Forschungsteam unter der Leitung von Marietta Meier von der Universität Zürich hat das rund 300-seitige Buch verfasst.
Das Forschungsteam fand Beweise für 67 Substanzen, die in Münsterlingen getestet wurden. Für weitere 50 Stoffe sind Anfragen oder Lieferungen belegt. Gefunden wurden auch zwei Blechschachteln mit 25.000 Dragees mit der Bezeichnung „G 35259, Ketimipramin“, einem Antidepressivum, das laut Marietta Meier nie auf den Markt kam.
Nur selten seien Patientinnen und Patienten genau über die Substanzen aufgeklärt worden und hätten freiwillig an klinischen Versuchen teilgenommen, sagte Meier. Eine konsequente Kontrolle habe es nicht gegeben, „es gab auch Zwischen- und Todesfälle“. Die jeweiligen Todesursachen seien aber unklar.
Neben der Klinik Münsterlingen und den Pharmafirmen war ein breites Netz von Institutionen und Personen in die Versuche einbezogen: stationäre und ambulante Patienten, deren soziales Umfeld, privat praktizierende Ärzte, andere Kliniken und Behörden. Kuhn soll für die Versuche 3,5 Millionen Franken erhalten haben. Kuhns Forschungsmethode habe spätestens ab Mitte der 1960er-Jahre den wissenschaftlichen Standards nicht mehr genügt, sagte Regierungspräsident Jakob Stark. Trotzdem hätten die Behörden und die Pharmaindustrie ihn gewähren lassen und ihn für die Versuche bezahlt.
Als besonders irritierend bezeichnete Stark „das schiere Ausmaß der Tests“ sowie die Tatsache, dass Testpräparate an Patienten abgegeben wurden, die nicht zu den Testpersonen gehörten. „Sehr betroffen macht, dass auch Patientengruppen wie Kinder, Jugendliche und Schwerst- und Chronischkranke in die Tests miteinbezogen wurden.“
Die Thurgauer Regierung entschuldigte sich „bei allen Betroffenen von Medikamententests in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen zwischen 1940 und 1980“. Den Betroffenen werde ein „Zeichen der Erinnerung“ auf dem ehemaligen Spitalfriedhof von Münsterlingen gewidmet.
„Das schiere Ausmaß der Tests durch Roland Kuhn ist besonders irritierend.“