IAEA-Chef Grossi: Atomanlage Saporischschja ist “außer Kontrolle”

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat vor einem möglichen Nuklearunfall im besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja gewarnt.
New York Die Lage in Europas größter Atomanlage sei “komplett außer Kontrolle”, erklärte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi, der einen dringenden Aufruf an Russland und die Ukraine veröffentlichte, Experten Zugang zu ermöglichen, um einen nuklearen Zwischenfall zu verhindern.
In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP am Dienstag sagte Grossi, die Situation in der Atomanlage Saporischschja in der südöstlichen Stadt Enerhodar werde jeden Tag bedrohlicher. Russische Truppen hatten die Stadt Anfang März, kurz nach der Invasion vom 24. Februar, eingenommen.
“Jeder Grundsatz verletzt”
“Jeder Grundsatz der nuklearen Sicherheit wurde verletzt”, sagte Grossi. “Was auf dem Spiel steht, ist äußerst ernst und extrem schwerwiegend und gefährlich.” Grossi nannte mehrere Sicherheitsverstöße und fügte hinzu, die Anlage befinde sich an einem Ort des Krieges. Die physische Unversehrtheit der Anlage sei nicht respektiert worden, sagte er mit Blick auf den Beschuss des Werks bei dessen Einnahme zum Beginn des Krieges sowie auf fortdauernde Informationen von der Ukraine und Russland, die sich gegenseitig Angriffe vorwarfen.

Zudem gebe es eine “paradoxe Situation”, in der die Anlage von Russland kontrolliert, aber von ukrainischen Mitarbeitern betrieben werde. Dies führe unweigerlich zu Spannungen und mutmaßlich auch zu Gewalt, sagte Grossi. Es gebe einige mangelhafte und unbeständige Kontakte zu Mitarbeitern der Anlage.
Die Lieferkette für Ausrüstung und Ersatzteile sei unterbrochen, “deshalb sind wir unsicher, ob das Werk alles bekommt, was es braucht”, sagte Grossi. Zudem müsse die IAEA wichtige Inspektionen umsetzen, “und es gibt dort eine Menge nukleares Material zu inspizieren.”
In der Summe gebe es “einen Katalog von Dingen, die in keiner nuklearen Einrichtung jemals passieren sollten”, sagte der IAEA-Chef. Aus diesem Grund habe er von Beginn an darauf gepocht, dass seine Organisation in der Lage sein müsse, die Anlage aufzusuchen, um die Sicherheit zu bewerten, Reparaturen vorzunehmen und zu assistieren, “wie wir das bereits in (dem havarierten Atomkraftwerk) Tschernobyl getan haben.”
Furcht vor zweitem Tschernobyl
Die russische Einnahme der Anlage befeuerte Ängste, dass der größte der 15 Atomreaktoren beschädigt werden könnte und eine weitere Katastrophe wie die von Tschernobyl 1986 auslösen könnte. Russische Truppen hatten die heftig kontaminierte Anlage kurz nach der Invasion besetzt, die Kontrolle Ende März aber wieder den Ukrainern übergeben. Grossi besuchte Tschernobyl am 27. April und äußerte auch dort Bedenken hinsichtlich der Sicherheit. Am Dienstag sagte er jedoch, die IAEA habe damals “eine Unterstützungsmission” in Tschernobyl eingerichtet, die bislang “sehr, sehr erfolgreich” arbeite.
In gleicher Weise müsse die IAEA auch in Saporischschja die Fakten sichten, was dort tatsächlich geschehe und verhindern, dass es zu einem nuklearen Unfall komme, sagte Grossi. Um die Anlage zu erreichen, brauchten er und sein Team Schutz und die dringende Kooperation Russlands und der Ukraine.
Jede Seite wolle, dass die internationale Mission von unterschiedlichen Orten ausgehe, was angesichts von Fragen der territorialen Integrität und politischen Erwägungen verständlich sei. Es sei jedoch wichtiger, das IAEA-Team nach Saporischschja zu bekommen. “Die IAEA wird durch ihre Präsenz eine Abschreckung gegen jeden Akt der Gewalt gegen dieses Atomkraftwerk sein”, sagte Grossi. “Ich appelliere an beide Seiten, diese Mission fortschreiten zu lassen.” APA