“Zerschnittene Welt” bei den Europäischen Literaturtagen

Ticker / 08.11.2024 • 09:01 Uhr

Das Spannungsverhältnis zwischen Stadt und Land steht im Mittelpunkt der diesjährigen Europäischen Literaturtage, die am Donnerstagabend im Klangraum Krems Minoritenkirche eröffnet wurden. Die Formulierung “Zerschnittene Welt” hat Festivalleiter Walter Grond beim Kremser Ökologen Martin Kainz gefunden. 

Die Philosophin Lisz Hirn (zuletzt erschienen: “Der überschätzte Mensch. Anthropologie der Verletzlichkeit”) empfindet bei dieser Themenstellung allerdings ein gewisses Unbehagen, denn sie impliziere, “dass da einmal etwas heil gewesen sei”. In der von Katja Gasser (ORF) moderierten Podiumsdiskussion mit dem deutschen Schriftsteller Christoph Peters (“Stadt.Land.Fluss”, “Krähen im Park”) diagnostizierte Hirn die Kluft zwischen Stadt und Land auf der Eigentumsebene, also “zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden”. Der Mythos der “digitalen Abgehängtheit” am Land sei zu hinterfragen, so Hirn, vielmehr würden im städtischen Bereich Themen diskutiert, die am Land oft nicht relevant seien, und umgekehrt gebe es oft eine Arroganz der Städter, gepaart mit Unkenntnis über das Landleben. 

Wird am Land eher rechts gewählt, in der Stadt eher links? “Die simple Trennung funktioniert so nicht”, meint Peters, in dessen niederrheinischer Herkunftsgemeinde – einem 800-Seelen-Dorf – nur sechs Prozent für die AfD gestimmt hätten. Allerdings ortet Peters einen “Hass auf die Landwirtschaftsbürokratie” und eine ökonomische Schieflage bei bäuerlichen Betrieben durch totale Industrialisierung. 

Auf die Frage nach der Bedeutung der eigenen Herkunft antwortete Peters, er wollte immer ein “heimatloser Weltbürger” sein, verspüre aber ein zunehmendes Bedürfnis nach seiner niederrheinischen Heimat, bei aller Problematik dieses Begriffs. Lisz Hirn wiederum empfindet weder Romantizismus noch Fluchtgefühle, sondern betrachtet gelungene Verwurzelung als Anpassungshilfe in neuen Situationen.

Im zweiten Teil des Abends sprach Rosie Goldsmith mit dem Architekten Osama Okamura (“Die Stadt für alle”) und dem Architekturkritiker Rowan Moore, wobei es um unterschiedliche Entwicklungen in Großstädten wie Tokio, London und Prag ging. Besonders positiv erwähnt wurde Wien, dessen hoher Anteil an gemeinnützigem Wohnbau weltweit einzigartig sei. 

Bis Samstag folgen weitere Gesprächsrunden und Lesungen u.a. mit Sarah Langford, Anne Weber, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Nikolaj Schultz, Roman Köster, Zdravka Evtimova, Patrícia Melo, Alina Herbing und Lorena Simmel. Am Sonntag wird der diesjährige Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln an den israelischen Autor und Friedensaktivisten David Grossman verliehen.

(S E R V I C E – Europäische Literaturtage in Krems, bis 10. November, )