Dorf unterm Damoklesschwert –  Was wird aus dem Erdrutsch-Ort Brienz?

14.09.2025 • 17:30 Uhr
Werner Roth am letzten öffentlich zugänglichen Punkt der Straße nach Brienz. Ab hier ist sie für die Allgemeinheit wegen der anhaltenden Erdrutschgefahr gesperrt.
Werner Roth aus Brienz darf nach Anmeldung durch die Schranke: Er holt an diesem Tag letzte Habseligkeiten aus dem Haus, das er und seine Frau aufgeben mussten. Claudia Wagner


Ein Erdrutsch hat das kleine Bündner Dorf, 180 Kilometer Luftlinie von Bregenz entfernt, aus dem Gleichgewicht gebracht: Neun Monate lang war Brienz für Außenstehende tabu – nun kehren manche zurück, um endgültig Abschied zu nehmen.

Darum geht’s:

  • Dorf Brienz seit Erdrutsch im Juni 2023 evakuiert.
  • Bewohner hoffen auf Rückkehr, Umsiedlung wird vorbereitet.
  • Geologische Herausforderungen und finanzielle Unsicherheiten bestehen fort.

Von Claudia Wagner

Albula Die Sonne brennt auf den Asphalt an diesem Tag, von Menschen und Fahrzeugen keine Spur. Der Parkplatz vor der Schranke ist leer. Die Straße, die hier von einer Schranke unterbrochen wird, führt nach Brienz. Das Dorf im Zentrum Graubündens, das in den vergangenen neun Monaten von keinem Fremden mehr betreten wurde – 180 Kilometer Luftlinie von Bregenz entfernt. Die Bewohner dürfen sich zwischen 9 und 21 Uhr dort aufhalten, streng durch Ausweiskontrolle überwacht – und nicht an allen Tagen. In dem Dorf, in dem etwa 80 Personen einen Erst- und 200 einen Zweitwohnsitz haben, ging in der Nacht zum 16. Juni 2023 ein Erdrutsch nieder, der die Gebäude nur knapp verfehlte. Seither ist nichts mehr wie es war.  Die Bewohner wurden für einige Wochen evakuiert. Am 17. November 2024 mussten alle Einwohner zum zweiten Mal ihre Heimat verlassen.

Dorf unterm Damoklesschwert –  Was wird aus dem Erdrutsch-Ort Brienz?
Der Felssturz vom 16. Juni 2023 verfehlte das Bündner Dorf Brienz-Brinzauls nur knapp – die meterhohen Geröllmassen kamen unweit der Schule zum Stillstand. APA/KEYSTONE/MICHAEL BUHOLZER

Die Straße zweigt kurz hinter dem Dorf Surava ab und führt zum Checkpoint. Hier wird Werner Roth, ein Brienzer, von einem Mitarbeiter eines Securitydienstes nach Aufnahme von Name und Uhrzeit durchgelassen zu werden. „Wir sind am Zügeln“, sagt Roth. Die Viereinhalb-Zimmer-Wohnung, die er mit seiner Frau bis November 2024 bewohnte, wird geleert: Bis zum Entschluss, den Wohnsitz aufzugeben, war es ein langer Weg. Im Gegensatz zur ersten Evakuierung blieben die Behörden beim zweiten Mal ab November 2024 reserviert mit Angaben, wann die Brienzer in ihre Häuser zurückkönnen. Roth besitzt ein umgebautes Bauernhaus mit Werkstatt. Nach der Evakuierung verzichten als erstes seine Mieter darauf, die Miete weiter zu zahlen.  Etwas später kündigen sie. Finanziell trägt das Konzept nun nicht mehr. Werner Roth und seine Frau haben inzwischen eine neue Wohnung zum Kauf in Schriens (Prättigau) gefunden. Die Gebäudeversicherung des Hauses in Brienz übernimmt einen Teil der Finanzierung.

Brienz Daniel Albertin
Daniel Albertin, Gemeindepräsident von Albula, an seinem Schreibtisch der Verwaltung in Tiefencastel. Das Dorf Brienz und seine Gefährdung durch den Hangrutsch beschäftigt ihn seit 2017. Claudia Wagner

Nicht immer ist eine finanzielle Lösung befriedigend. Für die Landwirtsfamilie Bonifazi ist es keine Option, Brienz dauerhaft zu verlassen. „Wir können nicht von heute auf Morgen irgendwo neu anfangen“, sagt Ursin Bonifazi. Die Eltern des 27-Jährigen betreiben die Landwirtschaft mit 50 Mutterkühen, 60 Schafen und vier Eseln. Der Stall sei durch die Rutschung stark in Mitleidenschaft gezogen, er müsste saniert oder neu gebaut werden. Doch wer zahlt? Die Ungewissheit zerrt auch an den Nerven der Bonifazis. Die Familie ist im Moment in Landquart in einer Wohnung untergebracht, die Kühe auf der Alm. Die Felder werden bewirtschaftet, die Schafe weiden auf einem Gelände knapp außerhalb der Sperrzone. Ob die Kühe nach dem Almabtrieb in Brienz bleiben, ist ungeklärt. Dennoch bleiben die Bonifazis optimistisch. „Wir glauben auch, dass die Behörden sich gut für uns einsetzen.“

Diese Straße führt weiter bis zum Dorf Brienz. Befahren dürfen sie aber nur eingetragene Bewohner des Orts. Tagsüber erhalten sie von 9 bis 21 Uhr Zugang.
Diese Straße führt weiter bis zum Dorf Brienz. Befahren dürfen sie aber nur eingetragene Bewohner des Orts. Tagsüber erhalten sie von 9 bis 21 Uhr Zugang. Claudia Wagner

An demselben Morgen sitzt Daniel Albertin, Gemeindepräsident von Albula/Alvra, in seinem Büro in Tiefencastel. „Die Evakuierung ist so zermürbend, dass man die Hoffnung auf Rücksiedlung verliert“, sagt Albertin. Zum einen bereitet die Gemeinde eine Umsiedlung in einem Neubaugebiet in Vazerol vor, die Brienzer bekämen  im Jahr 2027 Baurecht.  Ob sie damit zufrieden sein werden? Der Gemeindepräsident zuckt mit den Schultern. Etwa ein Drittel der Bewohner sei bereit, in Gespräche einzutreten. Die geologische Lösung ist nicht weniger kompliziert. Das Bergdorf ist zum einen vom Erdrutsch am Berg bedroht, der „jederzeit wieder passieren kann“, wie Daniel Albertin sagt. Zweitens rutscht das Dorf selbst langsam, aber merklich ins Tal ab. Noch vor einem Jahr habe es sich um zwei Meter und 45 Zentimeter bewegt, nun seien es noch 50 Zentimeter. „Das gibt Hoffnung.“ Mitte 2024 wurden Arbeiten an einem etwa 2,3 Kilometer langen Entwässerungsstollen aufgenommen.

Seit elf Jahren kümmert sich der Gemeindepräsident um Albula. Eine klare Strategie könne er nicht bieten: Entwässerungsstollen oder Umsiedlung? Eigentlich will Albertin seit zwei Jahren aufhören als Gemeindechef. Was er sich für Brienz wünscht? Sicherheit wäre am ehesten bei der Umsiedlung gegeben. „Aber ist das, was die Brienzer wollen?“ Eine Rückkehr mit geringem Risiko wäre Albertins liebstes Szenario. „Ich würde die Bewohner nie zwingen wollen, das Dorf aufzugeben.“