Leserbrief: Geschichtsagitation

Zum Kommentar “Im Namen Gottes?” von Harald Walser, VN vom 19.9.2025:
Es wäre unmöglich, auf jeden geschichtsagitatorischen Husarenritt von Harald Walser zu reagieren, aber fallweise ergeben sich Anmerkungen. Von den Kreuzzügen über den ermordeten Charlie Kirk findet er zu seinem geliebten “Austrofaschismus” und landet beim Vorarlberger (Studenten-)Cartellverband.
Vorweggenommen: Fast jede damals handlungstragende Politikerpersönlichkeit hat irgendwelche Auffassungen vertreten, die heute nicht mehr akzeptiert würden. Eine erstrangige Fundgrube wäre etwa der Linkssozialist Otto Bauer, dessen Fundus man nie ersichtlich angezapft hat. Der seriöse Historiker muss Aussagen vergleichen und einordnen in jene aus den Fugen geratene Zeit mit ihren Mentalitäten. Dass der gemäßigte Sozialdemokrat und Vater der Ersten Republik, Karl Renner, nach dem Zusammenbruch 1918 der prominenteste Anschlussbefürworter war, klingt sonderbar, könnte aber jener Katastrophenstimmung zugeordnet werden. Dass er 1938 der Öffentlichkeit mitteilte, in Hitlers Pseudo-Volksabstimmung mit “Ja” zu stimmen, war NS-Stimmungsmache und pure Anbiederung an die neuen Herren. Es ist ihm nachträglich nie wirklich auf den Kopf gefallen. Während Renner in seiner Villa in Gloggnitz dem Kriegsende unbedrängt entgegensehen konnte, schmachtete Kanzler Schuschnigg in KZ-Sonderhaft, die er nur mit großem Glück überlebte.
Vorschlag: Sobald sämtliche ehrenvolle Erinnerungen an Karl Renner (Straßen, Denkmäler, Vereinigungen) ausgemerzt sind, soll sich auch der Cartellverband auflösen, um seinen Gründer Otto Ender loszuwerden.
Gerald Grahammer, Lustenau