Schutzzone wird Ort des Grauens

Im Juli 1995 führte das Versagen der Vereinten Nationen zum Völkermord von Srebrenica.
Schwarzach, TUZLA, SREBRENICA Ein weißes Zelt neben dem anderen. Geflüchtete muslimische Bosniaken hausen darin. Meist Frauen und Kinder, nur wenige Männer. In ihren Gesichtern spiegeln sich Angst und Resignation wider. Vor einem Zelt sitzen vier ältere Frauen auf der Erde. Eine von ihnen zeigt mir ein vergilbtes Foto. „Moj muž i moj sin. Šta su im uradili?“, sagt sie mit zitternder Stimme. „Mein Mann und mein Sohn. Was haben sie ihnen angetan?“

Trotz der vielen Menschen ist es unheimlich still in dem Flüchtlingslager, das das UNHCR (Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen) auf dem stillgelegten Flughafen der ostbosnischen Stadt Tuzla eingerichtet hat. Laut ist nur ein UN-Soldat, der die Ankommenden per Megaphon begrüßt: „Willkommen im Tuzla-Flüchtlingscamp! Wir sind hier, um euch zu beschützen.“ Es ist der 17. Juli 1995. Ein sehr heißer Tag im Kriegsland Bosnien, in dem gerade ein Völkermord passiert, der als schwerstes Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs in die Geschichte eingehen wird.
Am 6. Juli 1995 starteten bosnisch-serbische Milizen, angeführt von General Ratko Mladić, massive Artillerieangriffe auf die UN-Schutzzone Srebrenica. Mehr als 20.000 Zivilisten flohen in das sechs Kilometer entfernte Potočari zur Militärbasis der niederländischen Blauhelme. Als sich bosnisch-serbische Einheiten dem Stützpunkt näherten, forderte der niederländische Bataillonskommandant Thom Karremans am 10. Juli beim UN-Kommando in Sarajevo Luftunterstützung an. Der Befehlshaber der UN-Truppen in Bosnien, der französische General Bernard Janvier, lehnte den Antrag ab. Grund: formale Fehler. Als Janvier am Morgen darauf den korrekt eingereichten Antrag genehmigte, war jedoch kein NATO-Kampfflugzeug unmittelbar einsatzbereit. Die wenigen Luftschläge blieben wirkungslos.

Am Nachmittag des 11. Juli 1995 fiel Srebrenica. Mladićs Truppen wüteten durch die Stadt. In der Nacht auf den 12. Juli brach eine Kolonne von etwa 15.000 meist männlichen bosnischen Muslimen von Srebrenica auf, um sich in das von den bosnischen Muslimen kontrollierte Gebiet durchzuschlagen.

Zwei Tage später befahl Mladić, die zur UN-Basis in Potočari geflüchteten Bosniaken zu separieren. Frauen und Kinder wurden in LKW und Busse verfrachtet und Richtung Tuzla transportiert. Die zwischen 16- und 65-jährigen Männer wurden in Nachbarorte verbracht und hingerichtet. Zur gleichen Zeit jagten Soldaten der Bosnisch-serbischen Armee sowie paramilitärische Einheiten die Kolonne, die Srebrenica zu Fuß durch die Wälder verlassen hatte. Den Marsch in die 80 Kilometer entfernte Stadt Tuzla überlebten knapp 6000 Personen. Über 8000 Männer und Jugendliche wurden zwischen dem 12. und 17. Juli ermordet.
„Wir wissen nichts“
Im Tuzla Flüchtlingscamp treffen laufend erschöpfte, verängstigte Menschen aus Srebrenica ein. „Wir haben bisher 6600 Personen registriert“, informiert Goran. Der UNHCR-Mitarbeiter rüstet die Geflüchteten mit Zelten, Lebensmitteln, Trinkwasser aus und führt sie über das Rollfeld zu einem Platz, wo sie ihr Zelt, ihr provisorisches Zuhause, aufstellen können. „Immer wieder werden wir gefragt, ob wir etwas über ihre vermissten Angehörigen wissen“, sagt Goran. „Wir wissen nichts. Gar nichts.“

Gerade haben Jakub und Jasna mit ihren drei kleinen Kindern das Camp erreicht. Jasna und die Kinder flüchteten mit einem Hilfskonvoi aus Srebrenica. Jakub entkam zu Fuß durch die Wälder. Fünf Tage war er unterwegs, immer der Gefahr ausgesetzt, entdeckt und erschossen zu werden. Wie sein Bruder Juso. Er war 16 Jahre alt.