Wasser und Wandel im Walgau

<strong>Wie Thüringen vom abgeschiedenen Bauerndorf zum Industriestandort wurde – und eine Fabrik das Dorfleben über Generationen prägte.
Thüringen Als in den 1830er Jahren die Industrialisierung den Walgau erreichte, rückte auch Thüringen ins Blickfeld internationaler Unternehmer. Der Schweizer Hans Caspar Escher, sein Bruder Albert sowie der Engländer Peter Kennedy entdeckten das bäuerlich geprägte Dorf für ihre Pläne. Der Schwarzbach mit seinem eindrucksvollen Wasserfall versprach Kraft für Spinnmaschinen und Färbeprozesse, und die neue Straße zwischen Bludenz und Feldkirch machte den Standort attraktiv. In Thüringen entstand bald jene Fabrik, die über mehr als ein Jahrhundert das Schicksal des Ortes bestimmen sollte. Zunächst in den Händen der Familie Douglass, später im Besitz der Familie Kastner, entwickelte sie sich zum Zentrum des dörflichen Lebens. Bereits kurz nach der Gründung kamen zahlreiche Textilarbeiter ins Dorf, vorwiegend aus dem Elsass und aus Graubünden. 1842 zählte Thüringen gerade einmal 382 Einwohner; die überwiegend protestantischen Zuwanderer stellten die Dorfgemeinschaft vor ungewohnte Herausforderungen. Dass viele von ihnen im fabrikeigenen Kosthaus lebten, verstärkte das Gefühl eines Fremdkörpers im Ort.

Trentiner im Walgau
Mit der Expansion des Unternehmens ab den 1870er Jahren stieg der Arbeitskräftebedarf weiter. Wieder eilten Menschen aus anderen Regionen herbei – diesmal Trentiner. Sie brachten neue Traditionen, Sprachen und Lebensweisen mit, was die soziale Struktur Thüringens abermals veränderte. Die Fabrik prägte nicht nur das gesellschaftliche Leben, sondern auch den Raum. In den frühen Jahren war die steile Kirchgasse die zentrale Verkehrsachse. Damit Rohstoffe zur Fabrik gelangten, wurde der Materialtransport über einen schräg angelegten, wasserkraftbetriebenen Aufzug organisiert – eine technische Besonderheit für ein Dorf dieser Größe. 1885 entstand die heutige Faschinastraße, die hinter der Fabrik den Anstieg ins Große Walsertal erleichtert. Von ihr profitierte auch die Familie Douglass, deren repräsentativer Wohnsitz, die Villa Falkenhorst, dadurch besser erreichbar wurde. Oberhalb des Wasserfalls wurde ein komplexes System aus Weihern und zusätzlichen Wasserleitungen aus benachbarten Bächen errichtet. Diese Anlage sicherte die Wasserversorgung der Fabrik und ist bis heute erhalten; die Gemeinde nutzt den Weiher inzwischen als Fischteich. Auch das Wasserwärterhäuschen und eine verfallene Druckrohrleitung entlang des Wasserfalls erzählen noch von der industriellen Vergangenheit.

Literaten machten Gegend bekannt
Die Douglass-Fabrik hinterließ nicht nur Spuren im Landschaftsbild, sondern auch in der Literatur. Norman Douglas und seine Halbschwester Grete Gulbransson, beide in Thüringen aufgewachsen, verarbeiteten ihre Kindheit im Walgau in mehreren Büchern. So gewann das Dorf über Vorarlberg hinaus Bekanntheit. Heute beherbergt die öffentlich zugängliche Villa Falkenhorst ein Kulturzentrum mit einer umfangreichen Dauerausstellung zur Geschichte des Hauses, seiner Bewohner und der Gemeinde. „Die Ausstellung startete mit der Eröffnung des Hauses 2000,“ sagt dazu Geschäftsführerin Verena Burtscher, „die Sonderausstellung über die Ära Kastner war 2017.“ Parallel zur Entwicklung in Thüringen entstand 1831 im benachbarten Bludesch eine Türkischrot- und Schönfärberei. Der Thüringer Johann Müller nutzte die wasserreichen Gegebenheiten des Ortsteils Gais und die günstige Nähe zum Bahnhof Nenzing. Aus dieser Färberei entwickelte sich das Textilveredelungsunternehmen Degerdon, das bis zur Jahrtausendwende zu den wichtigsten Arbeitgebern der Region gehörte. MEC
