Zunahme von Angststörungen und Depressionen dramatisch

Wichtiger Schutzfaktor für psychische Gesundheit sind positive Emotionen.
Wien. In Industrieländern wird eine „dramatische Zunahme der behandelten Fälle im Bereich der emotionalen Störungen beobachtet“, erklärte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jürgen Margraf, im Rahmen einer Tagung in Wien. Depression und Angststörungen seien auf dem Vormarsch, was auch stark mit veränderten gesellschaftlichen Zielvorstellungen zusammenhänge.
Der Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bochum wies auf spektakuläre Daten hin, die nicht nur in Nordamerika starke Zuwächse bescheinigen. Gleichzeitig sei in den vergangenen Jahrzehnten wachsender Narzissmus zu beobachten.
Zunehmende Ichbezogenheit lasse sich abseits der klinischen Forschung etwa auch in Popsongs nachweisen, in denen Wörter wie „I, me, mine“ (englisch für „ich“, „mich“, „mein“) heute häufiger vorkommen als noch vor 20 Jahren. Das sei gesamtgesellschaftlich eingebettet in eine „Verschiebung von internalen zu externalen Zielen“, so Margraf. Der Anspruch, sich über Status und Geld zu definieren und weniger über Beziehungen und Suche nach Sinnhaftigkeit rücke in den Vordergrund.
Falsche Vorstellungen
Dazu komme, dass Menschen bei der Orientierung an externen Zielen auch falsche Vorstellungen hätten. Margraf: „Der Durchschnittsmensch überschätzt das durchschnittliche Einkommen, die Durchschnittskörpergröße, sogar die Durchschnittsoberweite oder -penislänge. Es ist unglaublich, was alles überschätzt wird.“ Die größere wahrgenommene Diskrepanz zwischen all dem und der persönlichen Realität verstärke das Risiko, an einer emotionalen Störung zu leiden. Die starke Zunahme bei der Einnahme von Psychopharmaka könne hier nicht nachhaltig gegensteuern. „Obwohl die Industrie behauptet, dass sie tolle Erfolge hat“, scheine es, als ob mehr Psychopharmaka auch zu mehr Problemen führen, so der Experte. Es gebe Hinweise, dass Medikamente oft allenfalls kurzfristige Effekte haben und auf lange Sicht sogar negative Effekte überwiegen. „Wir sind an einem Punkt, wo wir etwas tun müssen. Es kann so nicht einfach weitergehen“, erklärte Margraf.
Höhere Lebenserwartung
Ein wichtiger Schutzfaktor für die psychische Gesundheit seien positive Emotionen. Als Beispiel nannte der Experte eine Studie, in der Nonnen beim Eintritt in einen Orden ihre Motivation für diesen Schritt in einem kurzen Text darlegen mussten. Wenn sich dort Hinweise auf positive Emotionen wie Freude oder Stolz fanden, habe sich die durchschnittliche Lebenserwartung um zehn Jahre erhöht. Neben diesem Einzelbefund gebe es viele weitere Hinweise auf solche Effekte. Führe man das alles zusammen, komme man zu dem Schluss, dass es „alltägliche positive Aktivitäten“ brauche, so Margraf. In der Forschung komme man zu folgendem Schluss: Positive Gefühle sollten im Alltag mindestens drei Mal so häufig wie negative Gefühle vorkommen. Sei das nicht der Fall, steige die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, rapide. Margraf: „Wir müssen das, was wir brauchen, täglich tun und das kann man üben und verbessern.“