Marlies Mohr

Kommentar

Marlies Mohr

Leben im Kartenhaus

Gesund / 05.09.2014 • 09:04 Uhr

Die Brieftasche ist alt und abgegriffen. Zerschlissen von einem langen Leben und fast leer. Der alte Mann braucht nicht mehr viel. Der 5-Euro-Schein hat höchstens noch Symbolcharakter. Er trägt die Brieftasche trotzdem ständig mit sich herum, denn sie enthält das Foto seiner verstorbenen Frau. Er hütet es wie Amerika seine Goldreserven.

Haben Sie noch Bilder Ihrer Liebsten in der Geldbörse? Irgendwie scheint das aus der Mode gekommen zu sein. Oder derlei Persönliches hat schlicht und einfach keinen Platz mehr, weil sich das Börserl wegen des vielen Plastiks ohnehin schon so baucht.

Bankomatkarte, Kreditkarte, Kundenkarte, Rabattkarte, Vorteilskarte, Mitgliedskarte, e-card: Es hat den Anschein, als würden wir unser Dasein im wahrsten Sinne des Wortes in einem Kartenhaus fristen. Dass sich die mit den diversen Karten verbundenen Vergünstigungen letztlich nur selten wirklich rechnen, weil ob der Aussicht auf ein paar Euro weniger meist mehr gekauft wird als geplant, tut dabei kaum etwas zur Sache. Der Kunde hat einen Namen, zumindest dann, wenn die Karte über den Scanner gezogen worden ist. Und geschultes Verkaufspersonal weiß in diesem Fall sofort, was sich gehört. Denn einmal ehrlich: Jeder fühlt sich irgendwie geschmeichelt, wenn er mit Frau oder Herr angesprochen wird. Da löst sich die Anonymität mir nichts, dir nichts, in Nichts auf. Und: Da geht man doch gerne wieder hin. Bis, ja bis der Mensch seinen Dienst getan hat.

Vielleicht ist dann auch wieder Platz für ein Foto in der Brieftasche.

marlies.mohr@vorarlbergernachrichten.at