Ein früher Tod, eine späte Rückkehr

Heimat / 11.08.2022 • 17:52 Uhr
Nina Turner, 1932 in Hohenems geboren, wurde im Jahr 1962 US-Staatsbürgerin. Pilpel family papers, US Holocaust Memorial Museum
Nina Turner, 1932 in Hohenems geboren, wurde im Jahr 1962 US-Staatsbürgerin. Pilpel family papers, US Holocaust Memorial Museum

Nina Turner, geborene Pilpel, besuchte Hohenems ab 1997 drei Mal. Ihr Bruder Ronald wurde nur 31 Jahre alt.

Hohenems Die jüdische Familie Pilpel musste 1938 aus Hohenems fliehen, weil ihr Verfolgung durch die Nazis drohte. Wie berichtet, ließen sich Vater Franz Josef, Mutter Marion und Tochter Nina mit dem 1942 geborenen Sohn Ronald nach Stationen in Indien und England letztlich in den USA nieder, wo die mittlerweile zum Katholizismus konvertierten Pilpels ihren Familiennamen in „Pell“ änderten.

1973 berichteten die amerikanischen Zeitungen über ein Familienmitglied der Pells. Im Fokus stand diesmal Sohn Ronald Pell, dessen lebloser Körper in einem Haus am Campus des „Nevada Mental Health Institutes“ entdeckt worden war. Dort wohnte der Psychologieprofessor Dr. Francis Lamb, dessen Leichnam ebenso mit einer Schussverletzung im Kopfbereich vorgefunden wurde.

Vorgeschobene Adoption

Den Medienberichten zufolge gab der Professor bei seinem Arbeitsantritt im Juli 1971 an, Pells Adoptivvater zu sein. Lamb habe damals auch behauptet, dass seine Familie „vor etwa fünf Jahren“ bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei und die Eltern von Pell, die zuvor Missionare in Burma gewesen sein sollen, ebenfalls bereits verstorben seien.

Nachdem am 9. Juli noch mehrere Zeitungen diese Version der Geschichte abdruckten, äußerte schon tags darauf das Reno Gazette-Journal Zweifel an deren Richtigkeit. So habe sich einerseits Lambs Ehefrau gemeldet, die angab, bereits seit 1966 von ihm getrennt zu leben. Zudem konnten die Mutter sowie die Schwester von Pell in Chicago ausfindig gemacht werden, die am 12. Juli in derselben Zeitung einen Nachruf auf den Verstorbenen veröffentlichten. Bei dem medial wiederholt erwähnten „engen Verhältnis“ der beiden, das im Amerika der 70er Jahre noch der Tarnung als Adoptiv-Verbindung bedurfte, scheint es sich also vielmehr um eine Liebesbeziehung gehandelt zu haben.

Mord und Selbstmord?

Zum Ende des Monats berichteten die Zeitungen über den genauen Tathergang. Dabei ist dem Nevada State Journal vom 29. Juli zu entnehmen, dass Pell laut kriminaltechnischen Untersuchungen einige Stunden vor Lamb verstorben sei. Zudem legten die Spuren nahe, dass beide Schüsse aus der Derringer-Pistole von Letztgenanntem abgegeben worden waren. So endete das Leben von Ronald Pell – der zunächst ab 1961 an der Universität von Chicago inskribiert war und (den Angaben des Nevada State Journals zufolge) ab 1966 als Sekretär von Francis Lamb fungierte und mit ihm zuletzt an die Universität von Nevada gewechselt war – mit gerade einmal 31 Jahren. Sein Grab befindet sich am Mountain View Cemetery in Reno, Nevada.

Während seine Schwester Nina, die seit einer nur kurzen Ehe mit dem Briten Roy Turner dessen Nachnamen führte, in den vorhandenen Aufzeichnungen über den Tod ihres Bruders keine Worte verliert, lässt sich aus diesen umso mehr zum weiteren Leben ihrer Mutter schließen. Marion Pell hatte immer intensiveren Kontakt zu ihrer Schwägerin Helen Gort, der älteren Schwester ihres früh verstorbenen Ehemanns, die ab 1970 ebenfalls verwitwet war. Marion und Helen wohnten schließlich sogar gemeinsam in einer Wohnung in Chicago. Dort verstarb Marion am 30. Juli 1990, das Begräbnis fand drei Tage später statt.

Rückkehr nach Hohenems

Nina Turner, die keine Kinder hatte, war somit das letzte lebende Familienmitglied mit einem Bezug nach Hohenems, wohin sie sich in weiterer Folge noch mindestens drei Mal begeben sollte. Im Nachlass finden sich einige Briefwechsel mit Hohenemserinnen und Hohenemsern, die mit ihr über die Jahre in Kontakt geblieben waren. Von diesen wurde sie immer wieder über Ereignisse, wie etwa den Treff der „Alten Schwefler“ im Jahr 1999, informiert.

Von Kamerateam begleitet

Auch zwei Reisen in ihre Geburtsstadt, einmal bereits im Juli 1997 und dann Ende Mai 2005, lassen sich aus den Korrespondenzen rekonstruieren. 2002 wurde sie zudem bei einem weiteren „Heimatbesuch“ von einer Fernsehkamera begleitet. Der von einem Nachkommen ihrer Freundin Anni Ruault für den Schweizer Privatsender TVO gestaltete Beitrag, zeigt die beiden betagten Damen bei ihrem Zusammentreffen im Pflegeheim und begleitet Nina Turner auch zum Jüdischen Friedhof.

Ihre wahrscheinlich letzte Reise nach Hohenems im Mai 2005 absolvierte sie im Übrigen in Begleitung ihres Lebensgefährten, der im Schriftverkehr nur „Bill“ genannt wird. Zehn Jahre später, am 4. Juni 2015 endete das Leben von Nina Turner in Chicago.

Seit November 2021 ist nun ihr Nachlass im Bestand des United States Holocaust Memorial Museums online verfügbar, wodurch die abschließende Recherche zur Familie Pilpel erst möglich wurde. Ihre Geschichte ist auch im frisch erschienenen „emser almanach no. 39“ nachzulesen. RAE

2002 besuchte Nina Turner ihre Geburtsstadt und wurde von einem Schweizer Kamerateam begleitet.TVO St. Gallen
2002 besuchte Nina Turner ihre Geburtsstadt und wurde von einem Schweizer Kamerateam begleitet.TVO St. Gallen