Das poetische Selbst sichtbar machen

Heimat / 04.04.2023 • 15:30 Uhr / 5 Minuten Lesezeit
Für Evelyn Brandt wirkt das Schreiben befreiend. <span class="copyright">Alle Bilder: BI</span>
Für Evelyn Brandt wirkt das Schreiben befreiend. Alle Bilder: BI

Autorin Evelyn Brandt bietet innovative Schreibseminare an.

feldkirch Evelyn Brandt ist eine Pionierin – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Die vielseitige Feldkircherin bot vor über zwanzig Jahren als erste Seminarleiterin Schreibwerkstätten in Vorarlberg an. Außerdem war sie die erste Österreicherin, der der akademische Grad Master of Arts für Biografisches und Kreatives Schreiben im Jahr 2008 von der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin verliehen wurde. Es handelte sich dabei um den ersten derartigen Masterstudiengang im deutschsprachigen Raum. Ihre fundierten Fachkenntnisse vermittelt die sympathische Seminarleiterin in innovativer Form und spricht damit viele am Schreiben interessierte Menschen an.

Frau Brandt, was bedeutet Schreiben für Sie?

BRANDT Beim Schreiben erfasse ich einen Gedanken sprachlich und gestalterisch, das innere Bild übersetze ich in Sprache und bringe es dann in eine literarische Form. Ich beginne also mit dem Aufzeichnen von Gedanken und Gefühlen. Dieser Primärprozess ordnet meinen Blick und meinen Ausdruck, bis das poetische Selbst sichtbar wird.

Für Sie kann Schreiben also befreiend wirken?

BRANDT Ja. Weil ich im ersten kreativen Prozess keine Leistung erbringen, nichts schaffen, nichts vorzeigen muss. Das Geschriebene dient nur mir selbst. Ich kann mich erforschen, meine Ängste, Sehnsüchte, Wünsche benennen. Schreiben erfolgt langsamer als Denken, ich kann während des Schreibprozesses innehalten und mich besinnen.

<p class="caption">Unterwegs mit den beiden Söhnen Achim und Laurin.</p>

Unterwegs mit den beiden Söhnen Achim und Laurin.

Weshalb konzipierten Sie bereits vor über zwanzig Jahren die ersten Schreibwerkstätten Vorarlbergs?

BRANDT Ich habe in den 90er-Jahren einen rumänischstämmigen Schriftsteller in Berlin kennengelernt, Paul Schuster. Er war der Doyen des Kreativen Schreibens in Deutschland und mein Mentor. Ich habe von ihm wertvolles Rüstzeug für meine Kurse bekommen.

Die Frauenschreibwerkstätte steht als Erfolgsgeschichte für sich. Worin sehen Sie die Beweggründe, dass gerade Frauen sich von diesem Format angesprochen fühlten?

BRANDT Die Frauenschreibwerkstatt war mein erstes und erfolgreichstes Format vor mehr als zwanzig Jahren. Da waren Männer per se ausgeschlossen. Kurse hingegen, die berufsbezogen die Schreibkompetenz fördern, werden von Männern besucht, ebenso die autobiografischen Seminare.

Ist die Nachfrage nach solchen Seminaren immer noch gegeben? Inwieweit hat sich das Angebot seit den Anfangszeiten verändert?

BRANDT Die Nachfrage ist ungebrochen. Mein Seminarmodell umfasst kreative, biografische und literarische Schreibkurse. In diesen drei Hauptzweigen leitete ich unterschiedlich Formate im In- und Ausland. Inzwischen habe ich manche Kurse aufgrund meines Alters aufgegeben, wie zum Beispiel die Kinderschreibwerkstatt, die ich in der Volkshochschule Rankweil gegründet und zehn Jahre geleitet habe.
Einiges habe ich Online verlagert, wie die Lyrikwerkstatt. Ein Online-Schreibseminar habe ich letztes Jahr neu konzipiert, da geht es speziell um Erfahrung in narzisstischen Beziehungen.

Authentizität ist für Sie ein wichtiges Schlüsselwort für den Schreibprozess. Aus welchem Grund ist das so?

BRANDT Wer Wert auf literarische und ästhetische Qualität legt, der wird so lange schreiben wollen, bis die eigene Sprache ans Tageslicht kommt. Der darf beim Erzählen keine Angst vor den eigenen und den Gefühlen seiner Figuren haben. Einen langweiligen Text erkenne ich an seinen Fluchttendenzen, wenn es „brenzlig“ wird, an mangelnder Liebe beim Schreiben oder fehlendem Interesse.

<p class="caption">Mit Teilnehmern der ehemaligen Sommer-Kinder-Schreibwerkstatt an der VHS Rankweil.</p>

Mit Teilnehmern der ehemaligen Sommer-Kinder-Schreibwerkstatt an der VHS Rankweil.

Hat jeder Mensch ein Schreibtalent – oder ist das Schreiben nur für Menschen mit einer entsprechenden Ausbildung geeignet?

BRANDT Jeder Mensch hat ein natürliches Schreibtalent. Wenn jemand Zeichnen, Singen oder ein Instrument lernen will, wird auch nicht nach dem Genie gefragt. In den USA oder in England, die eine jahrhundertalte „Creative Writing“-Tradition haben, ist diese Frage fremd. Und der italienische Schriftsteller Umberto Eco sagte, dass das Schreiben von Gedichten und Geschichten etwas sein soll, „was alle tun, so wie man Fahrrad fährt, ohne dabei an den Giro d‘Italia zu denken”.

Sie sind eine sehr innovative Seminarleiterin, die gerne aktuelle Themen der Zeit aufgreift. Welche Kurse oder Seminare bieten Sie derzeit an beziehungsweise sind in nächster Zeit geplant?

BRANDT Eine Schreibwerkstatt für Menschen mit und ohne Behinderung leite ich für die VHS Götzis, in diesem Rahmen findet am 21. April in der Bibliothek Götzis eine Lesung statt. Im Mai veranstalte ich ein Wochenendseminar in Lochau zum Thema „Vom Leben schreiben.“ BI

Evelyn brandt

Geboren 1952

Familie zwei Söhne (Achim und Laurin)

Wohnort Feldkirch

Hobbys Reisen, Lesen, Wandern, Stand-Up-Paddling

Lebensmotto “Jedes Schreiben ist auch ein inneres Zwiegespräch.”