Wohn- und Arbeitsskulptur

Immo / 06.10.2016 • 13:03 Uhr
Wohn- und Arbeitsskulptur

Abstände bedeuten viel in unserer Gesellschaft. Nähe und Distanz eines Gebäudes zum nächsten sind daher durch Mindestabstandsgrenzen zumindest partiell geregelt. Abstände waren für dieses Haus maßgeblich für seinen Entwurfsprozess und zeigen sich indirekt in seiner spezifischen Form. Autorin: Verena Konrad | Fotos: Cyril Müller, Darko Todorovic

nweit des Stadtzentrums von Hohenems steht das Haus der Familie S. in zweiter Reihe. Nicht gleich sichtbar, doch markant in jedem Fall, beherbergt die Wohn- und Arbeitsskulptur auf zwei Ebenen eine Arztpraxis und Wohnraum für eine Familie. Die meisten Menschen, die das Haus betreten, sind Patienten auf dem Weg in die Ordination, die dem Gebäude durch seine teil-öffentliche Nutzung einige Hausaufgaben mehr aufgegeben hat und so auch neue Auflagen für den Entwurfsprozess schuf. Barrierefreiheit etwa ist ein wichtiges Thema. Eine Rettungszufahrt und eine Tiefgarage für Autoabstellplätze mussten Platz auf dem Grundstück finden. „Das war eine der Haupt-herausforderungen. Das Raumprogramm ist um einiges größer als das eines Ein- oder Mehrfamilienhauses. Die Frage war daher immer wieder: gibt es auch etwas, das in den Hintergrund treten darf?“ Marc Hoffenscher begleitete als Architekt die Familie im Entwurfsprozess. Immer wieder standen Fragen nach Notwendigkeit im Raum. Im Fall der Familie S. war es der Familiengarten, der wegfiel. Das Gebäude wird durch eine Zufahrt erschlossen, es geht von dort aus einmal ums Haus, doch die Wege mussten frei bleiben. Ein weiterer Punkt war die Trennung von öffentlich und privat. Ein separater Eingang zur Wohnung mit gemeinsamem Vorraum wurde geplant. Die Freifläche ums Haus wurde nach hinten hin als kleiner Garten mit Kiesflächen gestaltet, der vom Wartezimmer der Praxis aus begehbar ist. Private Außenräume bieten eine Dachterrasse und große Balkone, die das Gebäude auch optisch von außen zonieren.

Das Gebäude sticht durch seine Materialität, vor allem aber durch die Gestaltung seiner Oberfläche aus der Wohnumgebung heraus. Bei näherem Hinsehen wird die Form selbst ein Thema. Das Auge beginnt das Gebäude abzutasten, sucht Punkte, an denen Linien zusammenlaufen. Die Komplexitität der Linienführung widersetzt sich gelernten Sehmustern. Dieses Haus folgt eindeutig und sichtbar einer nicht gewohnten
Planungskonzeption.

In der Kunst wäre es der Unterschied zwischen Plastik und Skulptur. Die Plastik folgt dem Prinzip des Aufbaus. Sie wird geformt aus einem bestimmten Material, setzt sich durch Zugeben neuen Materials zusammen. Die Skulptur folgt der Logik des Wegnehmens. Sie wird quasi aus einer bestehenden Form herausgearbeitet und freigelegt. Im Entwurf folgte Marc Hoffenscher gedanklich dem Tun eines Bildhauers. Durch bestehende Abstandsgrenzen tastete er sich von außen an mögliche Formen heran, nahm aus dem Volumen, das das Grundstück bot, Teile weg, die sich durch Abstände zu Nachbarn und Umwelt ergaben. Diese Art des Entwerfens folgt einer Vielzahl von Parametern und Funktionen, die in einer definierten Abhängigkeit zueinander stehen. Das Verändern einzelner Parameter hat Einfluss auf die gesamte Struktur, wobei die Veränderungen nach einem festgelegten Muster erfolgen. Parametrisches Design hat in Vorarlberg derzeit nicht viele Anhänger. „Das war auch in den ersten Bauverhandlungen zu diesem Objekt spürbar“, erzählt Marc Hoffenscher. Auch für den damaligen Gestaltungsbereirat der Stadt Hohenems gab es viele Fragen zu beantworten. Eine Adaptierung des Entwurfes wurde diskutiert. Die Bauherrenfamilie und Architekt Marc Hoffenscher gingen so gut als möglich auf diese Fragen ein, der Entwurf wurde nochmals überarbeitet.

Wie sieht „Anpassung“ in einer Gegend aus, die 100 verschiedene Architektursprachen kennt, in der kaum ein Baustil dem nächsten gleicht, in der sich – weitet man den Radius aus – von mittelalterlichen Burganlagen verschiendenen Alters, einem prächtigen Renaissancepalast, einem stattlichen Kirchbau, klein- und großbürgerlichen Wohnhäusern mit mehr oder weniger Gestaltungsanspruch bis hin zu dichtem Wohnbau der 1970er-Jahre im vertikalen Block und Industrie- und Gewerbebrachen so ziemlich alles zeigt. Hohenems ist baulich vielfältig. Ein Tüpfchen Vielfalt mehr bringen neue Bauten wie jene des Hauses von Familie S. Die Konzeption erfolgte maßgeblich durch die Einflüsse der Gebäudeumgebung – nicht bezogen auf seine Materialität, jedoch auf die Gebäudeform.

„Das Gebäude hat wie so viele in dieser Gegend auch einen teilöffentlichen Charakter. Durch die Praxis im Erdgeschoß ist es ein Teil der Stadtumgebung, die auch von anderen genutzt werden kann. Es steht in einem heterogenen Umfeld und behauptet sich dort als Solitär, der jedoch durch die begrenzte Fläche und Höhe nicht aufdringlich ist und sich zurücknimmt, wo er kann“, fasst Marc Hoffenscher die wichtigsten Überlegungen zum Gebäude zusammen. Heute hört er zum Gebäude vor allem Positives.

Die Umgebung des Hauses war maßgeblich für den Formfindungsprozess.

Einrichtung und Ausstattung der Praxis erfolgten zusammen mit dem Architekturbüro, um Einheitlichkeit zu gewährleisten.

Einrichtung und
Ausstattung der Praxis erfolgten zusammen mit dem Architekturbüro, um Einheitlichkeit zu gewährleisten.

Wohnen, Kochen, Essen, Musikmachen. Das Haus hat die Atmosphäre angenehmen laissez faires.

Wohnen, Kochen,
Essen, Musikmachen. Das Haus hat die Atmosphäre angenehmen laissez faires.

Für den Praxisbetrieb braucht es Abstellplätze und Anlieferungsmöglichkeiten, die in einer Tiefgarage anrainerfreundlich unter-gebracht wurden.

Für den Praxisbetrieb braucht es Abstellplätze
und Anlieferungsmöglichkeiten, die in einer Tiefgarage anrainerfreundlich unter-
gebracht wurden.

Heterogenes Umfeld Rund um das Gebäude zeigt sich die bauliche Vielfalt in Hohenems. Das Gebäude wurde auf ca. 430 m² Grundstücksfläche errichtet und beinhaltet eine Ordination, eine Wohnung und eine Tiefgarage.

Heterogenes Umfeld Rund um das Gebäude zeigt sich die bauliche Vielfalt in Hohenems. Das Gebäude wurde auf ca. 430 m² Grundstücksfläche errichtet und beinhaltet eine Ordination, eine Wohnung und eine Tiefgarage.

Außenräume für die Familie wurden auf dem Dach gestaltet. Rund um den zentralen Wohnraum zieht sich ein schmaler Balkon, der zu einer großen Dach-terrasse führt. Beeindruckend ist hier vor allem der Ausblick auf die Stadt- und Landschaftsräume.

Außenräume für die
Familie wurden auf dem Dach gestaltet. Rund um den zentralen Wohnraum zieht sich ein schmaler Balkon,
der zu einer großen Dach-
terrasse führt. Beeindruckend ist hier vor allem
der Ausblick auf die Stadt- und Landschaftsräume.

Helle Praxisräume mit klaren Linien auf 150 m2.

Helle Praxisräume mit klaren Linien auf 150 m2.

Viel Licht erhalten die Innenräume durch großzügige Balkone.

Viel Licht erhalten die Innenräume durch großzügige Balkone.

Die Kinderzimmer verfügen über Größen, die auch ein Größerwerden zulassen.

Die Kinderzimmer verfügen über Größen, die auch ein Größerwerden zulassen.

Feines Linienspiel und viel Designkompetenz lassen sich in Fassade und Licht-lösungen erkennen.

Feines Linienspiel und
viel Designkompetenz lassen sich in Fassade und Licht-lösungen erkennen.

Die Gebäudehülle wurde mit Platten aus geätztem Zink von VMZINC hergestellt. Als Formdetail wählte Marc Hoffenscher das irreguläre Pentagon.

Die Gebäudehülle wurde mit Platten aus geätztem Zink von VMZINC hergestellt. Als Formdetail wählte Marc Hoffenscher das irreguläre Pentagon.

Die Tiefgarageneinfahrt wurde in die äußere Form integriert.

Die Tiefgarageneinfahrt wurde in die äußere Form integriert.

Großzügige Balkone ergänzen die Zimmer von Eltern und Kindern und sind meist von mehreren Räumen aus begehbar.

Großzügige Balkone ergänzen die Zimmer von Eltern und Kindern und
sind meist von mehreren
Räumen aus begehbar.