Es bedeutet ihm die Welt

kontur / 28.03.2024 • 08:57 Uhr
Es bedeutet ihm die Welt
Igor Levit
Der gebürtige Russe ­(Jahrgang 1987) wuchs in Deutschland auf, wo Klavier­experten seine Hochbe­ga­bung früh erkannten. Der ­erfolgreich tätige Konzert­­pianist mit umfangreicher Diskographie ist seit dem Jahr 2019 auch Professor für Klavier an der Hoch­schule für Musik, Theater und Medien in Hannover. In Vorarlberg trat er bei der Schubertiade sowie im ­Rahmen der Bre­genzer ­Meisterkonzerte auf.

Neben ihrem eigentlichen Zweck regen die Plakate mit dem Schriftzug „The People United“ im Stadtbild von Bregenz zum Nachdenken an. Sie verweisen auf ein besonderes Ereignis, nämlich auf die Uraufführung eines einzigartigen Projekts, das der Pianist Igor Levit und der Choreograph Richard Siegal realisieren.

Für viele, die die Aufführung der „Passacaglia on DSCH“ von Ronald Stevenson in der Interpretation von Igor Levit im März 2022 in Bregenz erleben durften, war klar, dass es ein Konzert ist, das lange nachwirkt. Für eine konkrete Folge dieses Ereignisses hat Judith Reichart gesorgt. Die Chefin des Kulturservice in der Vorarlberger Landeshauptstadt und Verantwortliche für die Meisterkonzerte hegte den Wunsch, den prominenten Pianisten Igor Levit auch für das Festival Bregenzer Frühling zu gewinnen. In dieser seit den späten 1980er-Jahren bestehenden Veranstaltungsreihe stehen der zeitgenössische Tanz sowie die Begegnung mit renommierten Gruppierungen aus aller Welt im Fokus. Zahlreiche Österreichpremieren haben stattgefunden, zu denen auch die Choreographie „Fêu“ von Fouad Boussouf zählt, die erst jüngst vom Ensemble Le Phare Centre choréographique national du Havre im Bregenzer Festspielhaus präsentiert wurde. Zuvor ließ Angelin Preljocaj seine Tänzerinnen und Tänzer mit seinem enormen Gespür für die Verbindung von Tradition und Gegenwart sowie brisante Themen wie Unterdrückung und Selbstbestimmung brillieren.

Bedeutend.

Nun erwartet das Publikum eine Uraufführung. Der Pianist Igor Levit und der Choreograph Richard Siegal setzen das Werk „The People United Will Never Be Defeated“ von Frederic Rzewski (1938–2021) um. Dass ihm die von Judith Reichart initiierte Zusammenarbeit viel bedeutet, brachte Igor Levit ihr gegenüber mit dem schönen Vermerk „das schenke ich dir zu Weihnachten“ zum Ausdruck. Kenner wissen, dass eine Einspielung von „The People United Will Never Be Defeated“ längst zur umfangreichen Diskographie von Levit zählt und dass er dem Werk eine Folge in seiner Podcast-Reihe widmete.

Die Betrachtung des Themas, das Frederic Rzewski seinen 36 Variationen zugrundelegte, ist aufschlussreich, denn es handelt sich um ein Lied des chilenischen Komponisten Sergio Ortega, mit dem der Protest gegen den Militärputsch von Augusto Pinochet in Chile zum Ausdruck gebracht ­wurde. Die Uraufführung hatte ebenso Symbolwert, denn sie fand als kritisches Statement von Künstlern gegenüber der Regierung im Jahr 1976 in Washington im Rahmen der 200-Jahr-Feiern der USA statt. Die Vereinigten Staaten hatten die Pinochet-Diktatur bekanntermaßen unterstützt.

Es bedeutet ihm die Welt
­Bregenzer Frühling. Das Festival wurde heuer mit Choreographien von Angelin Preljocaj eröffnet.

Im Gespräch, das vor wenigen Wochen mit dem Pianisten Igor Levit geführt werden konnte, kommt auch seine intensive Beziehung zu Frederic Rzewski zur Geltung.

Sie haben die Wahl für das Klavierwerk für die Produktion mit Richard Siegal beim Festival Bregenzer Frühling getroffen, und zwar für „The People United Will Never Be Defeated“ von Frederic Rzewksi. Ich nehme an, die Gründe stehen im Zusammenhang mit der Entstehung des Werks.

Die Gründe sind vielfältig. Als Richard Siegal und ich uns getroffen hatten, haben wir darüber zu reden begonnen, wie man Musik, sozusagen Musik, wie ich sie spiele, quasi verkörperlichen kann, wie man ihr diese Dimension hinzufügen kann. Es ging darum, mit welcher Art von Musik man das machen kann. Wir haben uns über verschiedene Stücke unterhalten und wie man diese körperlich erfahrbar machen kann. Ich sagte, wenn es ein Werk gibt, das das Gemeinsame, das Zwischenmenschliche, das Zusammenkommende zum Thema hat, dann sind es die „People United“-Variationen. Ich beziehe mich dabei auf dieses Hymnische in diesem Stück, aber auch auf den permanenten Struggle, auf das Sichbemühen, das permanent Arbeitende und auch das Ankämpfen und das Streiten für etwas und das Zurückkehren auf etwas Gemeinsames. Es war meine Initiative und es hat ihn auch überzeugt. Das Stück bedeutet mir die Welt. Ich habe es mehrere Jahre nicht mehr gespielt. Jetzt darauf zurückzukommen, ist sehr schön.

Der Komponist und Pianist Frederic Rzewski war einer Ihrer Professoren. Welche ganz persönlichen Erinnerungen haben Sie an ihn?

Das ist für mich schwer zu beantworten. Es ist sehr ehrlich gemeint, ich habe immer wieder zu einer Freundin gesagt, wie sehr mir Frederic fehlt. Ich kann nicht etwas herauspicken, sagen, diese Eigenschaft fehlt mir oder jene. Er war ein komplizierter Fall, aber in seiner ganzen Art, in seiner Glaubwürdigkeit, in seiner Ernsthaftigkeit und Unbestechlichkeit, war er eine Bezugsperson. Er hat eine große Rolle gespielt in meiner persönlichen Entwicklung. Mir fehlt unser Austausch, mir fehlen seine langen E-Mails. Wir sind auch ein paar Mal aneinandergeraten, wie das Freunde machen. Er fehlt mir enorm. Er ist immer noch Teil meines Lebens. Wie gesagt, jetzt zu diesem Stück zurückzukommen in dieser Form – das könnte keine größere Bedeutung haben.

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Richard Siegal. (im Bild rechts mit Kulturservice-Leiterin Judith Reichart) hat mit zahl­reichen ­renommierten Ensembles gearbeitet. Nach Bregenz kommt der Choreograph mit dem Ballet of Difference.

Tragen Sie davon etwas in sich, wenn Sie aufs Podium gehen?

Ja natürlich, ich habe „The People United Will Never Be De­feated“ aufgenommen und sehr viel gespielt und dann lange nicht mehr. Wenn ich jetzt wieder zurückkehre, dann denke ich selbstverständlich an Frederic, ich nehme ihn mit. Wie gerne hätte ich, dass der Mann da ist.

Die Uraufführung findet am 18. Mai statt. Das heißt, die Choreographie für diese 36 Variationen steht oder ist auf jeden Fall in Arbeit. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Richard Siegal?

Wir sind in Kommunikation, aber diese ­Kommunikation wird sich noch einmal verstärken, je näher der Abend kommt. Wir haben uns ausführlich darüber unterhalten, aber Siegal ist so ein herausragender Künstler, dass ich – und so ticke ich als Künstler grundsätzlich – vollstes Vertrauen, in das habe, was er tut. Wir treffen uns vor Ort und wir werden gemeinsam arbeiten. Natürlich steht die Choreographie, aber es wird sich alles sowieso noch einmal verändern.

Es gibt Passagen in diesem Werk, in denen auch den Interpreten bzw. Pianis­tinnen und Pianisten Optionen angeboten werden – etwa pfeifen oder perkussive Aktionen. Wie werden Sie es damit halten?

Ich antworte ihnen mit einem Zitat von Rzewski: „Eine Improvisation ist eine Option, du entscheidest in dem Moment, ob du es tust oder nicht, wenn du es im Vorhinein entscheidest, dann ist es keine Improvisation mehr.“ Ich werde exakt in dem Moment die Entscheidung fällen. Ich werde keinen Deut an Gedanken vorher ­daran verschwenden.

Künstlerinnen und Künstler sollten sich in Zeiten eines Erstarkens des Rechtsextremismus positionieren. Kann so eine Aufführung auch in diesem Kontext stehen? Ich frage das auch wegen des Themas dieses Werks von Frederic Rzewski nach einem Protestlied des chilenischen Komponisten Sergio Ortega und weil die Uraufführung von „The People United Will Never Be Defeated“ 1976 in Washington zu den 200-Jahr-Feiern der USA stattfand und somit politische Aspekte berührte.

Dass die Aufführung für mich in diesem Kontext steht, steht außer Frage, aber Künstlerinnen und Künstler sollen gar nichts. Sie können, sie müssen nichts, das muss kein Mensch, das ist eine freie Entscheidung. Wir sollten Menschen dazu ermutigen, sich zu positionieren, aber ermutigen ist nicht gleich der Zeigefinger. Mit dem Zeigefinger erreicht man relativ wenig. Ich ermutige jeden, für diese freie Gesellschaft einzustehen, aber zwingen, oder moralischen Druck aufbauen, das funktioniert auf lange Sicht, glaube ich, nicht.

Text: Christa Dietrich

Fotos: Felix Broede, Laurent Philippe, Christa Dietrich, Luis Alberto Rodriguez

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