Wenn Fakten zu Lügen werden

Doppelte Spur
Ilija Trojanow,
S. Fischer Verlag,
240 Seiten
Kein Enthüllungsbuch, aber auch kein Agenten-Thriller.
Roman „Alles in diesem Roman ist wahr oder wahrscheinlich.“ Diesen Satz stellt Ilija Trojanow seinem eben erschienenen Roman „Doppelte Spur“ voran. Bei der Lektüre denkt man sich mehr als einmal: Hoffentlich trifft nur das Zweitere zu. Denn der Autor flicht so viele scheinbar gesicherte Fakten in seine Fiktion ein, dass uns das alles sehr bekannt vorkommt. Oder zumindest sehr plausibel.
Das nicht sehr geläufige Wort Kakistokratie bezeichnet die Herrschaft der Schlechtesten. Der Ich-Erzähler, ein investigativer Journalist, der mit dem echten Autor Name und Wohnsitz gemeinsam hat, lässt keinen Zweifel daran, dass es diese Herrschaftsform ist, unter der unsere Gesellschaft leidet. „Das Ziel der herrschenden Kakistokratie ist es, die Gesellschaft zu spalten“, heißt es am Ende. Unsicherheit werde so lange verbreitet, „bis die Menschen apathisch oder hysterisch werden, auf jeden Fall nicht mehr zuhören, nicht mehr aufpassen, nicht mehr nachdenken“. Zu diesem Zeitpunkt ist Ilija nach der Veröffentlichung seiner Erkenntnisse aus der Auswertung tausender ihm zugespielter, geleakter Dokumente bereits untergetaucht. Sowohl die russische Mafia als auch der amerikanische und der russische Geheimdienst haben mehr als einen guten Grund, ihm an den Kragen zu wollen.
Trojanow stellt einen Vorgang an den Anfang des Romans, der uns seit wenigen Jahren wohlvertraut vorkommt: Ein Whistleblower kontaktiert einen vertrauenswürdigen Außenstehenden, der integer und intelligent genug scheint, aus einer Unmenge brisanter Akten ein zusammenhängendes Narrativ zu destillieren und dieses zu veröffentlichen. Außergewöhnlich ist jedoch zweierlei: Innerhalb kurzer Zeit wird er fast gleichlautend von Informanten aus den USA und aus Russland kontaktiert. Und schon bald führt die „doppelte Spur“ jeweils ganz nach oben – zum russischen Präsidenten und seinem US-amerikanischen Widerpart, im Roman „Schiefer Turm“ und „Mikhail Iwanowitsch“ genannt.
Viele Details
Dass es dabei aber nicht um fiktionale Figuren geht, sondern um die realen Personen, macht eine Unzahl von Details deutlich, ebenso wie eine zwielichtige Figur namens Geoffrey Wasserstein, dessen mit Diamantfäden geknüpftes Netz aus Pädophilie und Erpressung sich einfügt in die engen Verquickungen von organisierter Kriminalität und hoher Politik, unschwer als Jeffrey Epstein zu identifizieren ist. All die dabei beschriebenen Dinge würde man als schlecht erfunden und unglaubwürdig abtun, wäre man ihnen nicht in den Medien unzählige Male begegnet. Trojanow zeigt, wie in einer Welt, in der Wahrheit nicht säuberlich von Fake getrennt wird, in der sich neben schlichten Tatsachen alternative Fakten gleichrangig platzieren lassen, alles auf die Interpretation ankommt – auf die Macht, die daraus entstehende Erzählung zu beeinflussen.