Vergessener Ferdinand schrieb auch Märchen

Kultur / 04.09.2020 • 17:22 Uhr
Der fremde FerdinandHeiner Boehncke, Hans SarkowiczDie andere Bibliothek428 Seiten

Der fremde
Ferdinand

Heiner Boehncke,
Hans Sarkowicz

Die andere Bibliothek

428 Seiten

Gerechtigkeit für einen weiteren Grimm-Bruder.

Biografie, Märchen Ob Hans im Glück oder Dornröschen, bei deutschen Märchen denkt jeder an die Brüder Grimm. Dabei waren Jacob und Wilhelm nicht die einzigen in der Familie, die Märchen sammelten. In ihrem neuen Buch “Der fremde Ferdinand” lassen die Literaturwissenschaftler Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz einem weitgehend unbekannten Bruder Grimm späte Gerechtigkeit widerfahren. Denn einen großen Teil der biografischen Erkundung nehmen die von Ferdinand Grimm gesammelten Sagen und Märchen ein. Am ehesten bekannt war bislang Ludwig Emil Grimm, der malende Grimm-Bruder. Ferdinand, Carl und Charlotte, das einzige Mädchen, waren in der Forschung dagegen bisher kaum beachtet worden. “Der Ferdinand war der bei weitem Interessanteste”, sagt Boehncke. “Wir haben herausgefunden, dass er drei Bände mit Sagen und Märchen herausgegeben hat.”

Von geschwisterlicher Liebe ist in Briefen der älteren Grimm-Brüder nicht allzu viel zu lesen über Ferdinand, der Ambitionen als Schauspieler hatte. “Dieser Faulpelz, dieser Fensterpfeifer”, schrieben sie darin, berichtet Boehncke. Dabei war Ferdinand durchaus aktiv als Schriftsteller, schrieb aber “leider sehr häufig unter Pseudonym, um seinen Brüdern zu entgehen”. Doch wenn Ferdinand schon vorher von seinen Brüdern häufig getadelt wurde, ist in der spärlichen Literatur über die Grimm-Familie von einer Familienkrise die Rede. Boehncke und Sarkowicz wurden neugierig und gingen in der Handschriftensammlung der Berliner Staatsbibliothek auf Spurensuche. “Dann haben wir alle Briefe, die in dieser Causa geschrieben wurden, mal zusammengelegt, haben schöne Stellen gefunden, haben auch noch andere Briefe gefunden”, erzählt Boehncke. Am Ende gab es eigentlich nur eine Erklärung: Ferdinand war homosexuell.

Wunderbarer Schreiber

Angesichts seiner Qualität als Autor und Sammler von Märchen und Sagen stehe Ferdinand Grimm jedenfalls zu Unrecht im Schatten der berühmten Brüder, meint Heiner Boehncke. Zumal der finanziell klamme Ferdinand viel zu Fuß reiste und sich dabei stets Märchen oder Sagen erzählen ließ. “Er hat den Leuten aufs Maul geschaut”, lobt Boehncke. Dass Jacob und Wilhelm dagegen vor Ort in den Dörfern oder Städten altes Volksgut recherchierten, sei ein Mythos. Die saßen meist in ihrer Wohnung. Ferdinand sei “ein ganz wunderbarer Schreiber” gewesen, schwärmt Boehncke. Und in manchem Märchen habe er sich selbst eingebracht, etwa seine große Einsamkeit. Als Ferdinand Grimm 1845 in Wolfenbüttel starb, besuchte ihn Jacob noch am Sterbebett. Wilhelm Grimm hingegen hatte den Kontakt abgebrochen. Mit ihrem Buch, so beteuern die beiden Autoren in ihrem Vorwort, wollen sie nicht die Verdienste von Jacob und Wilhelm Grimm schmälern. “Wir erlauben uns aber, ihrem Bruder Ferdinand die Gerechtigkeit nachzutragen, die sie ihm verweigert haben.”