Der Burgschauspieler aus Bludenz

Kultur / 02.04.2021 • 16:49 Uhr
Der Bludenzer Maler Mathias Jehly porträtierte seinen gleichnamigen Sohn vor dessen Abreise nach Wien 1842.
Der Bludenzer Maler Mathias Jehly porträtierte seinen
gleichnamigen Sohn vor dessen Abreise nach Wien 1842.

Vielleicht hatte der Bludenzer Maler Mathias Jehly (1780-1858) geahnt, dass er seinen gleichnamigen ältesten Sohn nicht mehr sehen würde. Jedenfalls porträtierte er den Jungen vor dessen Abreise. Jehly junior hatte schon länger den Wunsch, in der Reichshauptstadt Wien die Kunstakademie zu besuchen. 1842 war es endlich so weit. Lange hatte der Vater die Abreise des Sohnes verhindert, weil er ihn als Arbeitskraft zu Hause benötigte. Die Familie des Malers besaß nämlich eine kleine Landwirtschaft, die vom Jungen besorgt wurde. Der Maler selbst war für Aufträge oft auswärts und die Mutter Katharina Maier (1800-1878) war jahrelang im Kind- oder Krankenbett. Sie schenkte 16 Kindern das Leben. Erst als der jüngere Bruder erwachsen genug war, Stall und Feld zu bewirtschaften, durfte der ältere seiner persönlichen beruflichen Verwirklichung nachgehen.

Wie die zahlreichen anderen Vorarlberger, die vor der Eisenbahnzeit nach Wien wollten, begab sich auch Mathias Jehly jun. im Sommer 1842 zu Fuß nach Ulm. Von hier aus und aus den Uferstädten flussabwärts brachte die Donau zahlreiche hoffnungsvolle junge Menschen aus Süddeutschland und den Alpenregionen in die Reichshauptstadt. Sie alle kamen voller Zuversicht und trugen je nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Funktionieren und zum Glanz der kaiserlichen Metropole bei. Der Strom brachte Jahrhunderte lang nicht nur Waren, sondern auch frisches Blut in die Residenz. Der massenhafte Zuzug aus Böhmen und Mähren erfolgte erst nach der dortigen Bauernbefreiung 1848 und dem Bau der Nordbahn.

Die meisten der Neuankömmlinge hatten für den Start in Wien die Adresse eines Landsmannes, der es in Wien als Beamter, Handwerker oder Kaufmann zu Stand und Auskommen gebracht hatte und über mehr oder weniger Beziehungen verfügte. Während die kurz vor Jehly nach Wien gekommenen Feldkircher Josef Bucher und Max Schreiber in der Akademie Aufnahme fanden, wurde Jehly auf Grund seiner mangelnden Vorbildung abgelehnt. In seiner Enttäuschung und Not versuchte er bei mehreren Meistern erfolglos, zumindest als Anstreicher eine Beschäftigung zu finden. Schließlich bot er einem Meister eine unbezahlte Probezeit an, in der er seine Fähigkeiten zeigen wollte. Jehly war sich seiner Sache sicher, weil er seinem Vater zuvor bei unterschiedlichsten Malerarbeiten – handwerklichen ebenso wie künstlerischen – geholfen hatte. Tatsächlich wurde er nach einigen Wochen angestellt und zur Restaurierung eines Deckengemäldes in einem adeligen Palais abgestellt. Der Hausherr kontrollierte immer wieder die Fertigkeit des Malers sowie die Arbeitsfortschritte und kam schließlich mit dem tüchtigen jungen Mann ins Gespräch. Als er erfuhr, dass Jehly eigentlich auf die Akademie wollte, aber keine Aufnahme gefunden hatte, intervenierte er bei einem bekannten Professor. Wochen später war Mathias Jehly ordentlicher Student an der Wiener Kunstakademie. Die Revolution von 1848 erlebte er als Mitglied der akademischen Legion. Etwa 6000 Akademiker und Studenten waren zur Unterstützung der demokratischen Nationalgarde angetreten, aber nur noch wenige standen unter Waffen, als Wien im Herbst 1848 von den kaiserlichen Truppen gestürmt wurde.

Um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, arbeitete der Akademiestudent in der Werkstatt eines vielbeschäftigten Porträtmalers. In der Biedermeierzeit waren eine intakte Familie und traute Häuslichkeit zum Inbegriff bürgerlicher Lebenskultur erhoben worden. Bilder davon waren symbolträchtige Statements und traditionsfördernde Dokumente zugleich. So kam Mathias Jehly in gutbürgerliche Wiener Haushalte, um Gruppenbilder und Einzelporträts zu malen. Seit Ende der 1840er-Jahre aber litt der Maler an einer sich zusehends verschlimmernden Augenentzündung. Ein Arzt machte die Farbausdünstungen dafür verantwortlich. So musste er die Malerei quittieren; doch ein Kunde versprach ihm zu helfen, wenn er das Porträt seines Sohnes noch zu Ende male. Dieser Auftraggeber war niemand Geringerer als der Komponist und Kapellmeister Franz von Suppé (1819-1895). Er übernahm Jehly als Chorist ans Theater an der Wien, nachdem ihm dessen wohlklingende Stimme schon zuvor aufgefallen war. Ein Assistent brachte Jehly das Notenlesen bei, und der Meister führte ihn behutsam in seinen neuen Beruf ein. Im Eigenstudium lernte der vormalige Maler Italienisch und Französisch, später auch noch Englisch, um bei Shakespeare-Aufführungen in der Originalsprache mithalten zu können. Er lernte überhaupt sehr leicht. Die meisten Hauptrollen, die er während der Aufführungen mitgehört hatte, konnte er auswendig. Das führte auch dazu, dass er später mehrfach als Einspringer eingesetzt wurde, wenn ein Schauspieler kurzfristig ausfiel.

Als der berühmte Dichter und Abgeordnete zur Deutschen Nationalversammlung Heinrich Laube (1806-1884) mit der Leitung des Wiener Hof-Burgtheaters betraut wurde, bestand er auf einem ständigen Chor für sein Haus. Jehly verfügte zu dieser Zeit bereits über Theater- und Chorerfahrung und zudem über ein Empfehlungsschreiben seines bisherigen Förderers. So erhielt er 1850 seinen ersten Fünfjahresvertrag am Hof-Burgtheater, unterzeichnet von Heinrich Laube persönlich. Der Verdienst des Choristen und Komparsen war gering, aber ein sicheres Einkommen in einer unsicheren Zeit. Beim Abschluss des nächsten Vertrages wurde Mathias Jehly bereits als Schauspieler bezeichnet und etwas besser bezahlt. Er war aber ein Mann für Nebenrollen, spielte Diener und Begleiter und galt im Theater als umgänglich, belesen und bescheiden. Bedeutendere Rollen spielte er nur in Sommeraufführungen in Bad Ischl.

1872 erhielt er einen weit besser dotierten neuen Vertrag. Den gedruckten Vertragsklauseln war handschriftlich angefügt, Jehle müsse bei großen Produktionen auch für „stumme Rollen“ zur Verfügung stehen. Bei einem Mann, der sich mit dem Textlernen so leicht tat, kam das einer Verschwendung von Ressourcen gleich.

In diesen neuen Einkommensverhältnissen konnte der Burgschauspieler, nun bereits 52 Jahre alt, ans Heiraten denken. In Antonie Zeitelberger, der Tochter eines Wiener Schokoladenherstellers, fand er eine treue und theateraffine Partnerin. 1877 unterzeichnete der Bludenzer einen letzten Fünfjahreskontrakt und war danach pensionsberechtigt. Bald nach der letzten Vorstellung im Frühsommer 1882 und einer würdigen Verabschiedung am Hof-Burgtheater, an dem er 32 Jahre hindurch fast jeden Abend auf der Bühne gestanden war, übersiedelte das Paar nach Bludenz. Frau Jehly wurde aber in Vorarlberg nicht heimisch, hatte Heimweh nach Wien und ihrer Familie, obwohl sie die Bludenzer Verhältnisse und Verwandtschaft anlässlich von vorausgegangenen Sommerurlauben kannte. Also siedelte man zurück in die Reichshauptstadt, erstmals auf der durchgehenden Eisenbahn von Bludenz nach Wien. Als Antonie Jehly bald darauf in Wien verstarb, kehrte der alte Mime wieder nach Bludenz zurück und wohnte fortan im Hause seines Bruders. Die ihm noch verbleibenden Jahre bis zu seinem Tod am 29. Dezember 1892 verbrachte er als geselliger Zeitgenosse an Stammtischen, an denen er viel zu erzählen und aufmerksame Zuhörer hatte, sowie auf ausgedehnten Spaziergängen. Er habe, erzählte er auf dem Totenbett, alle Vorarlberger Gemeinden bis auf drei durchwandert. Darauf war er so stolz wie auf seine Wiener Karriere. Diese konnte sich durchaus sehen lassen: Der junge Mann aus Bludenz war ohne Geld und mit wenig Vorbildung nach Wien gekommen, hat aber die Aufnahme in die Akademie mit Können und Mutterwitz und deshalb mit glücklicher Hilfe geschafft. Als akademisch Ausgebildeter war er sich nicht zu schade, in einem Kunstmalerbetrieb zu arbeiten und eigene künstlerische Ambitionen zugunsten eines kargen Broterwerbs zurückzustellen. Angesichts der leidvollen Erfahrungen im Elternhaus, wo der Vater trotz unablässiger und mühevoller Kunstarbeit die umfangreiche Familie nur schwer ernähren konnte, war für ihn eine Rückkehr nach Vorarlberg als akademischer Maler keine Option. Seine Umschulung zum Schauspieler, nachdem er die Malerei aus gesundheitlichen Gründen hatte aufgeben müssen, war seiner Flexibilität ebenso geschuldet wie neuerlichen glücklichen Umständen. Das Glück fiel ihm aber nicht ohne Eigenleistung zu. Er war ein begabter, verlässlicher und charakterlich gefestigter Mann, der die Chancen, die sich ihm eröffneten, zu nutzen wusste und damit auch seine Förderer nicht enttäuschte.

Mathias Jehly als Hausknecht in einer Burgtheater­inzenierung von Shakespeares Drama „Heinrich IV“.
Mathias Jehly als Hausknecht in einer Burgtheater­inzenierung von Shakespeares Drama „Heinrich IV“.
1874 heiratete Jehly die Wienerin Antonie Zeitelberger.
1874 heiratete Jehly die Wienerin Antonie Zeitelberger.