Wie mit Samtpfoten gespielt

Kultur / 30.05.2021 • 21:32 Uhr
Sokolov umgibt sich auch diesmal mit einer Aura von Unnahbarkeit. Mittelberger
Sokolov umgibt sich auch diesmal mit einer Aura von Unnahbarkeit. Mittelberger

Grigory Sokolov beeindruckte durch unspektakulären Umgang mit Chopin und Rachmaninoff.

BREGENZ. Die Reihe der in dieser Saison entfallenen Meisterkonzerte außer Programm noch mit einem Großmeister des Klavierspiels zu toppen – das kann man in seiner Tragweite wohl nur in Zeiten der Pandemie verstehen. Doch der russische Klavierstar Grigory Sokolov (71) hatte erstens gerade Zeit und war zweitens auch gewillt, nach bereits sechs Klavierabenden ein weiteres Mal in Bregenz aufzutreten, das ihm zuletzt 2016 Ovationen bereitet hatte. Dazu kam die Entschlossenheit der neu bestellten Leiterin des Bregenzer Kulturservice, Judith Reichart, zu ihrem Einstand ein Zeichen zu setzen. All dies zusammen ergab für ein peinlich kontrolliertes „3G-Publikum“ in Festspielhaus eines der leisesten, kostbarsten, zugleich spannendsten Solokonzerte der letzten Jahre.

Sokolov, den viele für den größten lebenden Pianisten überhaupt halten, umgibt sich auch diesmal mit einer Aura von Unnahbarkeit: einsam am Flügel auf der schmucklosen Vorbühne vor dem in blutrotes Licht getauchten Hintergrund, das Licht auf ein Minimum gedimmt, dass vom Künstler gerade noch schemenhafte Umrisse erkennbar sind. Das mag eine Marotte sein, aber es schafft jene Atmosphäre, bei der man als Zuhörer von keinerlei Äußerlichkeiten abgelenkt wird, sich mit Haut und Haar in die Musik versenken und das verinnerlicht, was diesen begnadeten Lyriker, diesen introvertierten Extravaganten unter den wichtigen Pianisten unserer Zeit auszeichnet: die Magie seiner Musik.

Nichts gestylt oder gestelzt

Und so ist auch seine selbstvergessene Art des Klavierspiels, total versunken in seiner Musik. In dieser entwaffnenden Natürlichkeit ist nichts gestylt oder gestelzt oder aufgesetzt, alles fließt wie von selbst. Wie mit Samtpfoten behandelt er Chopin, der mit vier Polonaisen den Abend eröffnet, zart, aber nie verzärtelt, ein begnadeter Lyriker der Tasten. Das letzte Werk in As-Dur löst bei Musikfreunden den berühmten Aha-Effekt aus – das kennt man, da könnte man fast mitsummen – Gott bewahre! Aber auch Vielgespieltes erhält von Sokolov seinen besonderen Heiligenschein, alles besitzt bei ihm Charakter und Kontur in diesen perlend improvisatorischen, manchmal auch leicht parfümierten Klavierkaskaden, die er da aus dem Flügel zaubert. Das ist übrigens ein eigens für diesen Abend aus Zürich angemieteter nagelneuer Steinway, der in seiner Klangfülle den Anforderungen durchaus entspricht, für feine Ohren aber kleine Schwächen in klirrenden Einzeltönen aufweist.

In der Gegenüberstellung zeitlos gültiger Literatur zweier Klaviergiganten der Musikgeschichte folgt der Russe Rachmaninoff, der später Chopins eleganten Stil verfeinert und kompakter in unsere Zeit hinübergeführt hat. Auch in dessen höchst anspruchsvollen zehn Préludes op. 23 mit ihrer oft motorischen Rhythmik stehen bei Sokolov überlegene Virtuosität, Anschlagskultur und genaue Phrasierungskunst ganz im Dienst seines besonderen Gestaltungswillens. Da exerziert er auch die vertracktesten Doppeloktav-Läufe als lockere Fingerübungen in stoischer Ruhe und unspektakulär, jeder Klavierdonner, jedes Showgehabe sind ihm dabei fremd. Auch die Dynamik bleibt stets kontrolliert, nie ufert ein Forte übermäßig aus, bis zu den beiden erlösenden ruhigen Schlussakkorden. Man hat Grigory Sokolov in Bregenz schon weit kräftiger bejubelt als diesmal, dafür ist der Beifall für diesen leisen Abend weit herzlicher. Auch das lässt den Künstler scheinbar unbewegt, trotzdem gibt er drei Zugaben: Chopins Mazurka op. 68/2, Brahms‘ Intermezzo op. 118/2 und die Nr. 20 c-Moll aus den 24 Préludes von Chopin.