Im Angesicht des Marginalen

Unter dem Titel „Me and Bobby McGee“ zeigt Christine Lingg mit Künstlern aus dem „ARTelier Vorderland“ neue Arbeiten.
dornbirn „Me and Bobby McGee“: Ein Country-Song, der in den 70ern durch Janis Joplin Weltruhm erlangte, erzählt die Geschichte zweier junger Menschen, die zusammen reisen und sich später wieder trennen, um die Welt auf eigene Faust zu entdecken. Er handelt von gemeinsamen Wegen, von Freiheit und Unabhängigkeit. Im Kern erzählt der Song aber noch mehr, er erzählt vom Glück des Augenblicks, der oft erst in der Nachbetrachtung greifbar wird; denn, „wenn Bobby den Blues gesungen hat, dann war es kein Problem, sich gut zu fühlen. Und das war gut genug für mich. Und für Bobby McGee“.
Abseits gängiger Vorstellung
Diese Momentaufnahmen einer gemeinsamen Reise sind es, was das lyrische Ich aus dem Song, das „Me“, mit der Dornbirner Künstlerin Christine Lingg in gewisser Weise verbindet. So zeigt die Ausstellung im Funkhaus nicht nur die ganzheitlich künstlerische Arbeit Linggs, sondern dokumentiert auch Augenblicke ihrer langjährigen Auseinandersetzung mit den Menschen im „ARTelier Vorderland“ der Lebenshilfe Vorarlberg; sie präsentiert ihre gemeinsamen Momente mit den – wenn man so will – „Bobby McGee´s“ der Vorarlberger Art brut; denn im Wesen der Art brut selbst und damit im Wesen jener Menschen, deren künstlerischer Ausdruck sich aus der Natürlichkeit und Unberührtheit entwickelt, findet Lingg den Ansporn für ihr eigenes Schaffen; schließlich weiß die Künstlerin – selbst Autodidaktin – nur allzu gut, was Kunst losgelöst von akademischen Zwängen und artifiziellen Ambitionen im Stande ist zu leisten. Sie sind im Stande, das Authentische im Marginalen zu finden, den Ursprung und Kern der menschlichen Existenz – sprich seine Kreatürlichkeit und Natürlichkeit – erdhaft zum Vorschein zu bringen.
So zeigen sich in nahezu allen Werken der Künstler Lebenszeichen der Natur. Man ist fast geneigt zu sagen, die Natur dient ihnen als Orientierungsgröße in einem von Komplexität geprägten Alltag. Während etwa Hans Krois, Lukas Moll oder Irmgard Welte die Tierwelt mit ihren jeweils unverkennbaren und bisweilen reduzierten Strichen zu Papier bringen, setzt Savas Kilinc auf visuelle Überwältigung, wenn er in seinen großformatigen Wimmelbildern detailreiche, ab und an paradiesisch anmutenden Landschaften entstehen lässt.
Die Korrespondenzen zu Lingg sind dabei augenscheinlich, ist doch der Grundgedanke einer Art natürlichen Ursprungsform, die sich in der Natur- und Pflanzenwelt, im Menschen wiederfindet, der Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Mikroskopisch genaue Naturdarstellungen reihen sich dabei an gegenstandslose, nahezu surreal anmutende Gebilde, die an das Chaos als Urzustand der Welt erinnern lassen. Die Natur wird zum handelnden Objekt, wohingegen der Mensch in seiner Figuration zum reinen Betrachter degradiert wird. Lingg schafft einen von Ideologie scheinbar unangetasteten Kosmos, innerhalb dessen sich die Autonomie der Künstlerin entfaltet – und darin liegt wohl auch der Kern ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und nicht zuletzt mit den Werken und Gedanken der Art brut-Künstler im „ARTelier Vorderland“. Claudio Bechter
Die Werke sind bis inkl. 19. September 2021 online auf vorarlberg.ORF.at zu besichtigen.