Das Weihnachtsei

„Wieso ist die Pralinenschachtel aufgerissen?“, frage ich, als ich vor der Vorratskammer knie und mit wachsender Verzweiflung auf mein Wichtelgeschenk starre. Verärgert picke ich die drei übriggebliebenen Pralinen heraus und stopfe sie in meine Jackentasche, bevor ich die Schachtel achtlos über meine Schulter werfe.
„Was machst du hier denn für eine Unordnung?“, fragt mein Vater da entgeistert.
„Du weißt nicht zufällig, wer mein Wichtelgeschenk aufgegessen hat? Das war als Geschenk für Marianne gedacht!“
„Woher soll ich das denn wissen?“, erwidert er schnaubend und schlurft zum Esstisch, um in meinem kalten Kaffee zu rühren. Er nimmt einen Schluck und verzieht das Gesicht. „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass mein Kaffee kalt wird.“
„Das ist mein Kaffee.“
Er nimmt noch einen Schluck, die Augen zugepresst, die Lippen gespitzt. Dann schaudert er übertrieben.
„Wieso ist der so süß?“
„Kandiszucker.“
„Du kannst doch kein Kandis in den Kaffee geben“, sagt er vorwurfsvoll und rührt wieder mit dem Löffel. Seufzend erhebe ich mich und ziehe eine der Pralinen aus meiner Jackentasche. Ich drehe das Papierchen auf und stecke sie mir in den Mund. Kauend schaue ich mich nach meinem Kaffee um, aber den hat ja jetzt mein Vater. Er beäugt mich skeptisch.
„Du hast wohl nicht noch so eine Praline in der Tasche?“
Ich reiche ihm die zweite der drei Pralinen.
„Papa. Ich brauch heute Abend ein Wichtelgeschenk für die Weihnachtsfeier vom Volleyballverein. Es ist Sonntag. Das ist grauenvoll. Ich brauche ein Geschenk für Marianne, damit sie mit mir ausgehen will“, versuche ich ihm langsam zu erklären, damit er die Dringlichkeit der Angelegenheit versteht. „Im Kühlschrank steht noch ein Hase von Ostern.“ Ich stöhne, gehe aber zum Kühlschrank, wo ich tatsächlich einen Hasen aus Milchschokolade mit einem Glöckchen um den Hals finde. Niedergeschlagen greife ich nach ihm und will mich auf die Suche nach Geschenkpapier machen.
„Bring deiner Oma noch das Feuerholz, bevor du feiern gehst.“
Mit dem Auto schlängle ich mich die enge und glatte Bergstraße hoch. Alle Ausweichstellen sind vom Schneeschieber eingedeckt worden und ich hoffe, dass mir niemand entgegenkommt, weil ich bezweifle, das Auto anhalten und neustarten zu können, ohne vorher rückwärts den gesamten Weg wieder hinunterzurutschen.
Trotz der Eiseskälte laufen einige Hühner in Omas Garten herum. Die Haustür öffnet sich und Oma breitet die Arme aus um mich zu umarmen.
„Wie schön, dass du mich besuchen kommst!“
„Ich bring dir nur kurz das Holz rein, dann muss ich weiter!“, sage ich abgelenkt, während ich bereits den Kofferraum öffne.
„Ach, auf einen Tee kannst du doch bleiben!“, schellt es hinter mir.
Oma heizt das Haus an wie einen Backofen und bald muss ich die Jacke ausziehen, um beim Hereintragen des Holzes nicht wie ein Esel zu schwitzen. Nachdem ich alle Scheite in den Heizraum getragen habe, will ich schon Tschüss und Frohe Weihnachten sagen, als Oma ruft, dass der Tee bald kalt werde.
„Du musst auch dringend ein paar Eier mitnehmen“, sagt sie und deutet mit einem Kopfnicken auf zwei Kartons auf dem Küchentisch. Auf einen der Kartons ist ein großes X gezeichnet.
„Ist das der Piratenschatz?“
„Wie meinst du?“
„Das X, das den Schatz markiert?“
„Ach so, du alberst wieder“, lacht sie und tätschelt mir den Arm. „Das sind nur die Karfreitagseier, die musst du mir nachher bitte noch zur Kapelle hochbringen.“ „Ich hab auch noch einen Hasen von Ostern“, teile ich gedankenverloren mit und seufze wieder, weil ich noch immer nicht weiß, was ich Marianne schenken soll. Dann holen meine Ohren mich ein und ich frage verdutzt:
„Was soll ich mit den Eiern machen?“
„Die musst du mir bitte mitnehmen und bei der Kapelle oben verteilen, auch am Straßenrand ein paar, wenn du den Hügel wieder runterfährst.“
„Aber wozu das denn?“, rufe ich entgeistert. Oma stellt mir ein Körbchen mit Zimtsternen hin.
„Das schützt vor Unfällen. Eine Bekannte von mir ist letztens auf der Stufe vor der Kapelle gestürzt, als sie ihre selbstgebastelte Krippe hochgebracht hat. Da muss dringend ein Karfreitagsei hin, das bringt Glück.“
„Dringend“, wiederhole ich sarkastisch.
Die verdammte Kapelle steht auf der Spitze eines weiteren Hügels, zu dem nichts als ein schmaler Trampelpfad hochführt, weshalb sie natürlich mit dem Auto nicht zu erreichen ist. Seufzend werfe ich den Schal ein weiteres Mal um meinen Hals, so dass er meine erfrorene Nase bedeckt, stecke mir die Packung Karfreitagseier unter den Arm und mache mich auf den Weg.
Hier oben ist anscheinend schon länger Winter, denn ich muss mich durch kniehohen Schnee kämpfen, bis ich endlich an der Kapelle ankomme. Grummelnd und zähneklappernd ziehe ich die Schachtel unterm Arm hervor und lege ein einzelnes Ei auf die rutschige Stufe vor dem Eingang. Dabei fällt mein Blick auf ein kleines braunes Objekt, das im harten Schnee lieg. Neugierig greife ich danach und hebe ein handgefilztes Schaf hoch.
„Huh“, stutze ich und spähe durch die getönten Scheiben der Kapelle. Im Innern sehe ich ein schwaches Licht flackern, vermutlich eine elektrische Kerze. „Muss rausgefallen sein, als die Bekannte mit der Krippe gestürzt ist“, murmle ich, überrascht, dass ich meiner Oma so aufmerksam zugehört habe, und stecke das Schaf zu den Pralinen in meine Jackentasche.
Nach erfolgreicher Mission mache ich mich wieder auf den Rückweg. Als ich ins frierende Auto steigen möchte, höre ich ein dumpfes Klopfen. Ich schaue zum Küchenfenster, wo Oma das Fenster öffnet und herausruft:
„Hast du das Ei vor die Kapelle gelegt?“
„Ja doch! Ich geh doch nicht den ganzen Weg ohne das Ei zu legen!“
„Die restlichen Eier musst du neben die Straße legen! Vor allem in die Kurven!“
„Ich kann doch nicht mitten auf der Straße stehen bleiben, um ein Ei zu legen!“
„Ach hör doch auf wieder rumzualbern!“ Damit zieht sie das Fenster wieder zu und winkt mir energisch durch die gehäkelten Vorhänge. Ich winke zurück und steige ins Auto, um die vereiste Bergstraße zurück ins Tal zu kurven. Dabei parke ich wie ein Depp alle paar Kurven das Auto am Straßenrand, an halbwegs übersichtlichen Streckenstellen, und lehne mich aus der Autotür, um ein Ei an den Straßenrand zu legen. Anschließend gleite ich weiter die Straße hinunter und durch das Dorf zum Sportzentrum.
Die Weihnachtsfeier findet für alle Vereine statt, und als ich die Tür zur Sporthalle öffne, ist der Raum bereits in gedämpftes Licht getaucht. Eine Diskokugel lässt bunte Lichtkreise über die Wände gleiten, aus einem Lautsprecher dröhnt Last Christmas und von den Sprossenwänden hängt Engelshaar. Ich bewege mich auf das Buffet zu, während ich mit dem Blick nach Marianne suche.
„Hey du“, höre ich sie plötzlich direkt vor mir sagen und ich zucke überrascht zusammen.
„Marianne!“
„Falsch!“
„Was?“
„Heute bin ich dein Wichtel“, sagt sie grinsend und reicht mir einen ungeschickt verpackten Volleyball.
„Oh, ähm, ich, danke!“, antworte ich und will das Geschenk entgegennehmen, aber bemerke, dass meine Hand auch voll ist. Ich halte mein Wichtelgeschenk hoch.
„Ich bin auch dein Wichtel“, sage ich mit rotem Kopf und reiche Marianne den Korb von meiner Oma, indem ein paar Zimtsterne liegen, eine einzelne Praline, ein Osterhase, ein Karfreitagsei und ein gefilztes Schaf.
Marianne lacht und wir versuchen die Geschenke auszutauschen, ohne sie fallen zu lassen. Nach ein bisschen Gehangel halte ich schließlich den Volleyball in der Hand und Marianne den Korb. Marianne schaut in den Korb, dann zu mir und dann zum Volleyball in meiner Hand.
„Du wusstest wohl auch nicht, was du mir schenken sollst“, sagt sie verschmitzt und ich lache unsicher.
„Sorry.“
„Ist okay. Hey, ich weiß, die nächsten Tage sind bestimmt stressig wegen Familie und so, aber magst danach vielleicht mal zusammen essen gehen?“
„Genau dasselbe wollte ich dich fragen.“
Sie grinst und schaut erneut in den Korb.
„Hast du den Hasen seit Ostern?“
„Ja.“ Verlegen reibe ich mir den Nacken. „Das Ei solltest du besser auch nicht essen, aber die Praline schmeckt echt gut.“
Zur Person
Laura
Nußbaumer
Geboren 1997 in Bludenz
Ausbildung Studium Psychologie, Philosophie und Englisch an der Universität Wien, Lehrgang Schreibpädagogik
Laufbahn Veröffentlichung in verschiedenen Zeitschriften sowie den VN, Minidrama „Der Überraschungsgast“ (UA in Feldkirch), Kurzhörspiel „Buchstäblich verliebt „ (ORF)
Wohnort Wien