Gerald Matt

Kommentar

Gerald Matt

Identitätspolitik, eine tödliche Krankheit

Kultur / 05.04.2022 • 08:30 Uhr

Die Auswüchse von Identitätspolitik und Wokismus werden immer absurder und gefährlicher. Neulich war den Medien zu entnehmen, dass in Zukunft Schneewittchen ohne die sieben Zwerge auskommen soll. Nach Kritik an der Neuverfilmung des Grimm‘schen Märchens denkt Disney ernsthaft über deren Ersatz nach. Ja, bis in den Kinderfasching reicht die moralische Keule der neuen Inquisitoren. Indianer, Chinesen, ja selbst Aladdin und Old Shatterhand (böser Weißer!) sind tabu. Ob der einäugige, einarmige Pirat nicht auch körperlich Beeinträchtigte beleidigen könnte, ist da auch keine offene Frage mehr. Die Sängerin Ronja Maltzahn wird von Friday for Future von einer Demo ausgeladen, weil sie Dreadlocks trägt und damit nach den Dogmatikern der Bewegung sich der rassistischen Ausbeutung fremder Kulturen schuldig macht.

„Da geht es nicht um Abbau von Diskriminierung und Ausgrenzung, sondern um neue Diskriminierung und ethnisch rassische Abgrenzung.“

Der pervertierten Phantasie der selbsternannten Antidiskriminierungskreuzzügler sind keine Grenzen gesetzt.

Identitätspolitischer Konsens ist nun auch, dass die Identität eines Schauspielers mit der von ihm verkörperten Rolle übereinstimmen sollte: Nur Schwarze dürfen Schwarze spielen, nur Lesben spielen Lesben usw. Auch das ließe sich ins Absurde fortsetzen, nur die Putzfrau spielt eine Putzfrau, nur der Burgenländer einen Burgenländer. So wird es nun auch zum Skandal, wenn die großartige Helen Mirren die legendäre israelische Ministerpräsidentin spielen soll. Dies könne nur eine “jüdische Schauspielerin” überzeugend darstellen, lautet die Kritik. Da zeigt die Identitatspolitik ihr wahres Gesicht, da geht es nicht um Abbau von Diskriminierung und Ausgrenzung, sondern um neue Diskriminierung und ethnisch rassische Abgrenzung.

Für die Kunst und vor allem das Theater ist Identitätspolitik eine tödliche Krankheit. Denn Theater und Leben sind nun einmal zwei Paar Schuhe. Wenn der Guardian Minderheitenrollen nur mehr mit Minderheiten mit dem Argument besetzen will, dass „die tiefe Wahrheit jeder ausgegrenzten Identität nur diejenigen kennen, die diese Identität leben“, ist der Gazette die Natur des Theaters entgangen. Im Theater und im Film geht es nicht um Selbstdarstellung und Wiedergabe persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse, sondern um das überzeugende Spielen von Rollen. Das Theater ist ein Möglichkeitsraum des Lebens, nicht seine Realität. Und Schauspieler spielen nicht ihre Geschichte, sondern versetzen sich in andere, fiktive Personen, erfunden vom Autor des Stückes und geleitet von den Ambitionen eines Regisseurs. Ein Theaterstück soll und muss weiterhin an der Leistung der Schauspieler, nicht an ihrer Identität beurteilt werden. Angeblich soll Gary Grant Alfred Hitchcock gefragt haben, woran er beim Filmen denken soll, um sich in Figuren einzufühlen. Die Antwort des Meisterregisseurs lautete: “Denk an das viele Geld, das ich Dir zahle.“

Gerald Matt

gerald.matt@vn.at

Dr. Gerald Matt ist Kulturmanager und unterrichtet an der Universität für Angewandte Kunst in Wien.