Systemkritik mit Spaßfaktor

Kultur / 25.04.2022 • 18:52 Uhr
Laiendarsteller und Profis werfen im Pfauen unter anderem die Frage auf, wer der Freiheitskämpfer Tell heute sein könnte. Philip Frowein
Laiendarsteller und Profis werfen im Pfauen unter anderem die Frage auf, wer der Freiheitskämpfer Tell heute sein könnte. Philip Frowein

Der Theatermann Milo Rau fragt: Was ist und wem gehört die Freiheit?

ZÜRICH Er wagt sich an Themen, bei denen es wehtut. Das geschieht auch im Falle seiner jüngsten Regiearbeit. Die Mehrfach-Überschreibung von Schillers Drama „Wilhelm Tell“, die Rau nun auf die Pfauenbühne des Schauspielhauses gestemmt hat, bietet freilich auch viel Entertainment – und zwar der intelligenten Sorte. Systemkritik mit Spaßfaktor plus Raffinesse, ließe sich sagen. Oder: Klug gebautes Agitprop-Theater, bei dem es einem auch warm ums Herz wird.

Laien und Profis spielen, sprechen, singen und musizieren im Pfauen. Auf eine Leinwand projizierte Videoeinspielungen, live gefilmte Szenen, historische Tonaufnahmen und Fotos verzahnen sich schlüssig. Die übergeordnete Frage, die der seit 2018 das Niederländische Theater Gent leitende Rau stellt, heißt: Was ist und wem gehört die Freiheit? Sie umschließt auch die beiden Aktionen, die der Bühneninszenierung vorangegangen sind. In einer Kirche nämlich war bereits die symbolische Hochzeitsfeier zwischen einer Offizierin der Schweizer Armee und einem aus dem diktatorisch regierten Eritrea geflüchteten Mann, der seit 2015 ohne die nötigen Ausweispapiere in der Schweiz lebt. In einem weiteren „Vorspiel“ im Foyer des Kunsthaus-Erweiterungsbaus ging es um die Verstrickung des Waffenhändlers Emil Georg Bührle, dessen Sammlung im Kunsthaus zu sehen ist. Der Eritreer, die Offizierin, die Frau, die als Jugendliche Zwangsarbeit in einer Spinnerei von Bührle hatte leisten müssen und bei der zweiten Aktion mitwirkte, ein im Rollstuhl sitzender Leiter einer Beratungsstelle für Inklusion, sechs weitere Laiendarsteller und fünf Profis werfen im Pfauen unter anderem die Frage auf, wer der Freiheitskämpfer Tell heute sein könnte. Die autobiografisch genährten Botschaften und Performances reichen von himmeltraurig bis lustig und sind immer plausibel verortbar innerhalb der Gesamtkomposition des Abends, für den der Ausstatter Anton Lukas ein eher funktional-nüchternes Bühnenbild mit fantasievollen Kostümen belebt hat.

Tells Privatinteressen 

Milo Rau flicht die wichtigsten Handlungsstränge bei Schiller in die Inszenierung hinein; also die Geschichte um den Landvogt und Tyrannen Gessler, den „Rütlischwur“ und das Loyalitätsdilemma des Ritters Ulrich von Rudenz. Hinzu kommen mehrere Verweise auf die ikonische „Tell“-Inszenierung Oskar Wälterlins von 1939 und den auch bereits „historisch“ gewordenen „Hamlet“ mit Ex-Neonazis in der Regie von Christoph Schlingensief aus dem Jahr 2001. Und bei all dem schafft Rau es auch noch, die sagenumwobene Titelfigur in Schillers Drama herauszupräparieren als einen Mann, der kein systemkritischer Revolutionär ist, sondern politisch agiert, weil er seine Privatinteressen verteidigen möchte.

Weitere Vorstellungen (90 Min.) bis 28. Mai. www.schauspielhaus.ch