Sportlich nackt für Tolstoi

Kultur / 12.09.2022 • 16:30 Uhr
Silvia Meisterle als Anna Karenina und Claudius von Stolzmann als Wronski im Theater in der Josefstadt. <span class="copyright">APA</span>
Silvia Meisterle als Anna Karenina und Claudius von Stolzmann als Wronski im Theater in der Josefstadt. APA

Nach zahlreichen Verfilmungen ist „Anna Karenina“ für Bühnen wieder attraktiv geworden.

Wien, St. Gallen Ein Ausstattungselement, immerhin ein zentrales, charakterisiert das gesamte Vorhaben. Auf synthetischem Eis läuft es sich ganz gut, tiefe Temperaturen braucht es für die Errichtung auch nicht, das Flair des winterlichen Vergnügens kann es allerdings kaum vermitteln. Ähnliches passiert bei Romanadaptierungen für die Bühne. Der Grad des Gelingens hängt von der Möglichkeit der Fokussierung der Hauptthemen ab. Leo Tolstoi lenkt in „Anna Karenina“ den Blick auf die adelige Gesellschaft Russlands Ende des 19. Jahrhunderts und leuchtet dabei in einige Familien bzw. Paarkonstellationen, um das Netz von Konventionen, Politik und Religion zu verdeutlichen, das individuelle Entscheidungen massiv beeinflusst. Nach einer Reihe von Verfilmungen, Hörspielen und Theaterfassungen scheint „Anna Karenina“ für die Bühne wieder attraktiv geworden zu sein. Das Wiener Theater in der Josefstadt eröffnete die Saison gerade mit einer Bearbeitung des Werks durch Armin Petras und Amélie Niermeyer, die ihre Version auch inszenierte. Das Theater St. Gallen kündigt für Ende September die Premiere der „Anna Karenina“-Fassung von Mirja Biel an.

Dass auch in diesem Fall der Ausbruch Annas aus einer Zweckehe im Zentrum steht, davon kann man ausgehen. Mit ihrer zwar kurzen und tragisch endenden, aber leidenschaftlichen Verbindung zum Grafen Wronski hat die Unterhaltungsindustrie Milliarden gescheffelt. Damit lässt sich auf der Bühne, wo die Reduzierung der Figuren selbstverständlich auch gefordert ist, noch nicht reüssieren. Niermeyer blendet deswegen ein paar der philosophischen Überlegungen zu Kirche und Staat von Ljewin ein, die alles andere als verstaubt erscheinen und traut auch Kitty, seiner späteren Frau, weit mehr als unglückliche Verliebtheit zu, während der Pragmatismus von Stepan und Dascha (Bruder und Schwägerin Annas) in recht spannenden Farben schillert. Dass sich Wronski und Karenin in ihrer Empathiefähigkeit nicht diametral zueinander verhalten (wie etwa die Sorge bei Annas Erkrankung zeigt), erscheint auch angesichts der Tatsache, dass wir uns bei Niermeyer weitgehend in der Gegenwart befinden, sehr gut überlegt. Der Eislaufplatz auf der Bühne der Josefstadt ist mehr als ein einfaches Symbol, und das Ensemble erweist sich auf den Kufen so präsent und sicher wie in den Dialogen und den immer wieder geforderten Erzählpassagen, dass sich auch in drei Stunden keine Durchhänger ergeben.  

Das Bühnenbild ist eine Eislauffläche. <span class="copyright">APA</span>
Das Bühnenbild ist eine Eislauffläche. APA

Die erwähnte Synthetik lässt sich dennoch nicht brechen, dazu werden die Zugeständnisse an ein Publikum, das mit Anna das Bild einer Diva verbindet, zu deutlich. Silvia Meisterle löst sich dann davon, wenn sie in Konfrontation mit Karenin tritt, die Liebesszenen mit Wronski sind wie für Hochglanzfotos choreografiert. „Jetzt ist er schon wieder nackert“, sagt eine Stimme hinter mir. Sagen wir es so, der Verzicht auf Kleidung auf der Bühne wie in den eingeblendeten (ohnehin leider etwas verkitschten) Filmszenen von der Italienreise ist hier sehr sportlich, das Innenleben hat es in dieser Form noch selten offenbart. Somit bleiben auch in einer durchaus packenden Inszenierung einige wesentliche Aspekte ungelöst, und auch wenn der verlassene Ehemann in der Gegenwart gar kein Recht dazu hätte, ihr das gemeinsame Kind zu entziehen, ist es schwer zu verdauen, dass Annas letzte Entscheidung mehr aus Überspanntheit resultiert als aus Verzweiflung.

Meisterle und Von Stolzmann. <span class="copyright">APA</span>
Meisterle und Von Stolzmann. APA

Apropos: Damit man für ein etwaiges Literaturquiz gewappnet ist, wird der Eingangssatz des Weltliteraturromans auf den Bühnenvorhang geblendet: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“

Nächste Aufführung im Wiener Theater in der Josefstadt am 14. September und zahlreiche weitere: josefstadt.org

Alma Hasun als Kitty und Alexander Absenger als Ljewin in "Anna Karenina". <span class="copyright">APA</span>
Alma Hasun als Kitty und Alexander Absenger als Ljewin in "Anna Karenina". APA