Radikale Analyse männlichen Draufgängertums

„Das weite Land“ von Arthur Schnitzler in der Regie von Barbara Frey.
Wien Arthur Schnitzler muss in dieser Saison für einiges herhalten, unter anderem für die Produktion „Reigen“, die in der Inszenierung von Yana Ross mit Texten von zehn Autorinnen und Autoren bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde und neben dem Titel so gut wie nichts mit dem gleichnamigen Werk zu tun hat. Beim Koproduktionspartner, am Schauspielhaus Zürich, wo dieser „Reigen“ nun auf dem Spielplan steht, lässt sich das jetzt nachverfolgen. Barbara Frey war dort bis 2019 Intendantin. Die nunmehrige Leiterin der Ruhrtriennale in Bochum hat in Kooperation mit dem Wiener Burgtheater nun Schnitzlers Tragikomödie „Das weite Land“ inszeniert. Verfrachtet ins Akademietheater bescherte sie diesem das mittlerweile selten gewordene Bild voll besetzter Publikumsreihen und schon im Voraus ausverkaufter Aufführungen.
Dabei muss man sich nach bereits von jeglichem Sentiment befreiten Inszenierungen wie jener von Andrea Breth auf eine kompromisslose Lesart einstellen. Während Schnitzler ein Bild der Unaufrichtigkeit und Bindungsunfähigkeit einer bürgerlichen Schicht in Zeiten des Umbruchs zu Beginn des
20. Jahrhunderts darstellt, dabei aber die Chance zur Weiterentwicklung bewahrt, mutet Barbara Frey dem Fabrikanten Friedrich Hofreiter, einem Protagonisten der modernen österreichischen Literatur schlechthin, diesbezüglich nichts mehr zu. Das entspricht vielleicht nicht mehr den Intentionen des Autors, aber einer scharfen, heutigen Analyse der Figur dieses Machers, der als Unternehmer ebenso nach Expansion trachtet wie als Privatmann in Bezug auf seine Liebschaften.
Wie ein Untoter
Bildlich konsequent in die Gegenwart übertragen, kann er nur noch wie ein Untoter auftreten. Michael Maertens tut es und hält diese Gangart ohne Überhöhungsattitüde auch in den zweieinhalb Stunden der pausenlosen, spannungsreichen Aufführung durch. Ein hinzugefügter Prolog, in dem zur Sprache kommt, wie sich Insekten menschlicher Leichname bemächtigen, verdeutlicht das gewählte morbide Setting eines Stücks, das die meiste Zeit nicht mehr als ein paar Sessel und einen schwarzen Tüllschleiervorhang aufweist und bekanntermaßen mit der Beerdigung des Pianisten Korsakow beginnt. Aufgrund unerwiderter Zuneigung von Genia Hofreiter soll sich dieser das Leben genommen haben. Frey erspart uns den üblichen Zynismus, wenn Hofreiter (der später dann ja doch den neuen Liebhaber seiner Frau ermordet) bemerkt, dass er nichts gegen eine solche Liaison gehabt hätte. Als Gerücht in die Welt gesetzt, markiert es den Zugang zu einem Geflecht aus Lügen, Verstellung und der Steuerung der Triebenergie – dem weiten Land der Seele. Keine Künstlichkeit zu evozieren, obwohl die Menschen zwar sprechen, aber weitgehend nicht mehr miteinander kommunizieren, ist das große Verdienst dieser Aufführung, die nicht den Fabrikanten, sondern einmal Genia Hofreiter, ungemein ausbalanciert gespielt von Katharina Lorenz, stärker ins Zentrum rückt. Am Ende wird der Blick auf eine Tunnelbohrmaschine frei, die zu den Hofreiters, Aigners und Natters vordringt, die Schnitzler zuerst in einer Villa in Baden und dann bei einem Weiher in Südtirol verortet. Die Dolomitenlandschaft ist im Bühnenbild von Martin Zehetgruber zur Wandmalerei verkommen, vor der die Seelen in Stagnation verharrten. Großer Applaus für eine radikale Sicht. CD
Weitere Aufführungen von „Das weite Land“ ab 20. September im Akademietheater in Wien: burgtheater.at