Morde, Lügen und Lebensgefühle

Kultur / 07.10.2022 • 17:33 Uhr
Morden und LügenAndré Pilz, 303 Seiten, Suhrkamp

Morden und Lügen

André Pilz, 303 Seiten,
Suhrkamp

Wie wirklich ist die Wirklichkeit, könnte man sich fragen, vor allem, wenn sich keiner daran so wirklich erinnern mag.

Romane Der Roman beginnt mit einem Rückblick: Im Jahre 2000 wurde die Studentin Geli Reitmann in einem Studentenheim einer österreichischen Universitätsstadt ermordet. Nach einer Heimparty wurde ihr im umliegenden Gelände ein tödlicher Stich ins Herz verpasst. Die Bestürzung war groß, der Täter konnte jedoch nie gefasst werden. 14 Jahre später, so lange brauchte Gelis Mutter, um mit dem Verlust ihrer Tochter abzuschließen, fand sie bei der Endreinigung von Gelis Zimmer ein verstecktes „Himmel und Hölle“ ihrer Tochter, dieses Falt- und Fingerspiel für Kinder, auf dem Bilder stellvertretend für Himmel und Hölle gezeichnet werden. Bei den Bildern der Hölle sind Gelis Studienkollege Jan und ein ihrer Mutter unbekannter Mann gezeichnet. Plötzlich erwacht in ihr wieder das untrügliche Gefühl, dass dies ein neues Indiz sein könnte, dass zumindest Jan mehr weiß, oder ihrer Tochter näherstand, als er damals im Verhör zugegeben hat. Dazu hat die Mutter genug Geld geerbt, um den Fall noch einmal antauchen zu können, ein privat finanzierter Cold-Case sozusagen. Der Vorarlberger Autor André Pilz schickt seinen Protagonisten Jan auf die Reise zurück nach Österreich, um bei der Aufklärung am Mord behilflich zu sein. So zu lesen in „Morden und Lügen“, dem aktuellen Roman des Vorarlberger Autors André Pilz.

Haddah – heimliche Heldin

Die Ermittlung führt der pensionierte Kriminalbeamte Eduard Veith, der jetzt nicht wirklich ermitteln will, sondern eher vermittelt, frei nach dem Motto, Jan soll doch alles sagen, was er weiß, sodass er seine Ruhe von der eher anstrengenden Mutter hat. Aber Jan weiß nichts, zumindest hat er sich das sehr gut eingeredet und lässt sich eben nur dann etwas entlocken, wenn es dem Spannungsbogen geschuldet ist. Das ist auch gut so. Wirklich nimmt die Geschichte Fahrt auf, als Haddah, Aktivistin und ein Star auf den Kanälen der sozialen Medien, auf den Plan tritt. Sozialkritisch fällt der Blick auch auf die dunklen Seiten der Stadt, zwei junge Afrikaner wurden im Dunstkreis des Geli-Mordes „beseitigt“, ein zweites Studentenheim kommt in den Fokus der Ermittlungen, dazu Afterpartys, von denen heute niemand mehr etwas wissen will. Gut dosiert lässt Pilz mit Haddah die neue mediale Wirklichkeit einfließen, ohne dass sie dem Leser zu sehr auf die Nerven geht. Der Autor versteht es hier sehr gut, die Karten immer wieder neu zu mischen, sodass die Story des Neo-Suhrkamp-Autors bis zur letzten Seite kurzweilig erzählt bleibt. Den inneren Klappentext sollte man als Leser tunlichst meiden, er verrät wieder einmal zu viel.

Der Zeitgeist von früher

Tom Kummer lässt wieder von sich hören. In den 1990er-Jahren war er der große deutschsprachige Journalist, mit Interviews und Porträts internationaler Stars und poppigen Geschichten, die den damaligen Zeitgeist einfingen, er war so etwas wie ein Zeitgeist-Guru. Nur blöd, dass ihn die Wirklichkeit einholte und viele prägnante Geschichten von ihm als Fakes enttarnt wurden, als das Wort Fake noch nicht einmal in aller Munde war. Das hat am Ende des Jahrtausends einen richtigen Wirbel ausgelöst – als Kunstform könnte man die Storys jedoch gelten lassen. Nun bäckt Kummer kleinere Brötchen, „Unter Strom“ nennt sich der Roman, in dem es um die Trennung von seiner Partnerin Nina geht. Fazit: Immer wieder kommt hier die Zeit durch, als der Duft von Calvin Klein noch zur Inspiration eines Romans dienlich sein konnte und die Form der Flasche tatsächlich ein Kapitel füllen hätte können.

Unter StromTom Kummer, 251 Seiten, Tropen Verlag

Unter Strom

Tom Kummer, 251 Seiten,
Tropen Verlag