Ein Symbol des Widerstands

Die Geschichte des nie in Betrieb genommenen Atomkraftwerks Zwentendorf.
Zwentendorf Hier, am Ufer der Donau, ragt ein Monument der verpassten Gelegenheiten und politischen Entscheidungen in die Höhe.
Das Atomkraftwerk Zwentendorf, dessen Schicksal vor über vier Jahrzehnten die österreichische Nation in Staunen versetzte, ist bis heute ein Symbol des Widerstands und der Bürgerbeteiligung.
Es war das Jahr 1978, als die Nachricht die österreichischen Fernsehbildschirme erreichte: Das Atomkraftwerk Zwentendorf würde nicht in Betrieb genommen werden. Eine Entscheidung, die das Land in Aufruhr versetzte, die politische Landschaft erschütterte und für 200 hochqualifizierte Beschäftigte, die jahrelange Spezialausbildungen in Deutschland und den USA absolviert hatten, eine Welt zusammenbrechen ließ.
Bundeskanzler Bruno Kreisky hatte das österreichische Volk erstmals in der Geschichte der Republik über eine so entscheidende Frage abstimmen lassen. Der Atomkraftbefürworter wollte die Entscheidung, Strom aus Kernenergie zu produzieren, direkt von der Bevölkerung absegnen lassen.
Doch die Bevölkerung entschied – wenn auch knapp – anders. Bei der Volksabstimmung am 5. November 1978 sprachen sich 50,47 Prozent gegen die Inbetriebnahme des Kraftwerks aus, bei einer Beteiligung von 62,6 Prozent.
Mit diesem Ergebnis hatte niemand gerechnet, da die damaligen Großparteien SPÖ und ÖVP pro Kernenergie und pro Zwentendorf waren. Als dann Kreisky im Zuge der Abstimmungsdebatten signalisierte, im Falle einer Niederlage zurückzutreten, wurden Anhänger der ÖVP besonders aktiv gegen Zwentendorf. Kreisky war zwar sehr betroffen von der Entscheidung, trat aber nicht zurück.
Maßgeblich für das Ergebnis war die Vorarlberger Bevölkerung, die zu 80 Prozent gegen das Atomkraftwerk stimmte.
Sie setzten ein Zeichen nicht nur gegen Zwentendorf, sondern auch gegen die geplante Errichtung eines grenznahen AKWs in der Schweiz, das letztendlich nie gebaut wurde. „Muttertag: Vorarlberger Mütter erinnern Bischöfe an Atomappell“ lautete der Titel eines Berichts der Neuen Vorarlberger Tageszeitung. Neun Vorarlberger Mütter waren zuvor in den Hungerstreik getreten, um gegen den Probebetrieb in Zwentendorf zu protestieren. In einer Anzeige, geschaltet in den Vorarlberger Nachrichten, hieß es: „Bregenz: Große Bilddokumentation zur AKW-Problematik mit Schuhputzaktion. Samstag, 7. Oktober, ab 13 Uhr, Fußgängerzone, Bregenz.“ Viele Jahre später, kurz vor der Katastrophe in Tschernobyl, stellte die „Arbeiter-Zeitung“ in einer Titelblatt-Schlagzeile fest: „Nur Vorarlberger sind noch gegen Atomstrom.“
Gottfried Bechtold setzte mit einer großen Skulptur, die vor Kurzem vor dem AKW aufgestellt wurde, das vorerst jüngste Vorarlberger Zeichen.
Doch was wurde aus dem Atomkraftwerk, das bereits erbaut war, aber nie seinen Zweck erfüllen durfte? Hinter 1,2 Meter dicken Stahlbetonwänden verbergen sich die beeindruckenden Strukturen einer unfertigen Anlage. Grüne Pfeile weisen den Weg durch die endlosen Hallen, während hunderte Rohrleitungen das Innere durchziehen. Hier hätten riesige Pumpen pro Sekunde 30 Kubikmeter Kühlwasser aus der Donau durch die Adern der Anlage gepumpt. Die Turbinen wären in der Lage gewesen, den durch die Kernspaltung erzeugten Dampf in über 700 Megawatt Leistung umzuwandeln. Doch stattdessen herrscht Stille und Leere in den Hallen des Kraftwerks.
Die Eigentümer, acht österreichische Energieunternehmen, glaubten, dass die Politik ihre Meinung noch ändern würde, und hofften, die Anlage später doch in Betrieb nehmen zu können. Also setzten sie das Kernkraftwerk in einen sogenannten Konservierungsbetrieb. Ein Großteil der Mannschaft blieb beschäftigt, um die Anlage für den Tag X in Schuss zu halten.
Die Metallverbindungen wurden auseinandergenommen, man schweißte die Enden in Plastik ein, damit sie nicht korrumpieren und man sie rasch wieder zusammenschließen könnte, sollte die Anlage in Betrieb genommen werden. Ansonsten saßen die Menschen in einem Atomkraftwerk mit 1050 Zimmern ohne Fenster und hatten nichts zu tun. Ein Potemkin’sches Dorf, ein Ort der puren Langeweile. Ein klassisches österreichisches Provisorium, sprich sehr stabil, folgerichtig hielt es bis ins Jahr 1985 und kostete weitere 7 Milliarden Schilling. Insgesamt verschlang das AKW Zwentendorf 14 Milliarden Schilling, ohne dass auch nur eine Kilowattstunde Strom erzeugt worden wäre.
Die Jahre vergingen, und Zwentendorf blieb ein Ort der verpassten Chancen und gescheiterten Projekte. Im Jahr 1985 beschloss man, das Kraftwerk zu einem Ersatzteillager für Atomkraftwerke und konventionelle Kraftwerke aus ganz Europa umzuwandeln – doch selbst der Verkauf der Ersatzteile erwies sich als Misserfolg, noch heute sind 98 Prozent des Originalmaterials in Zwentendorf zu besichtigen.
Einige der Techniker fanden in anderen Ländern Anstellungen, während andere ihre Karrierepläne aufgaben und zu überzeugten Atomgegnern wurden. Die beiden Geschäftsführer des Kraftwerks reagierten unterschiedlich auf das Ende des Konservierungsbetriebs – der eine beging Selbstmord, der andere wechselte in die Alternativ-Energiebranche und widmete sich fortan dem Bau von Wasserkraftwerken. Ein Mann, Johann Fleischer, blieb bis zum Schluss in der verlassenen Anlage – der „Hausmeister“ oder „letzte Cowboy“ von Zwentendorf, wie ihn die Journalisten nannten. Gemeinsam mit seinem Hund und einer Kanne Öl zog er durch die einsamen Räume und ölte die Metallteile ein. Eine symbolische Handlung in einem Ort, der nie das erfüllte, wozu er geschaffen wurde.
In Zwentendorf scheiterte alles, was je geplant wurde, und es zog Menschen und Projekte an, die ihresgleichen suchten. Ein Baumeister hatte die Vision, die Trauerkultur in Österreich zu verändern, indem er vorschlug, die frisch Verstorbenen in große Glassäulen zu gießen und sie dann auf der Freifläche des Kernkraftwerks auf der grünen Wiese aufzustellen.
Dann entdeckte Hollywood das Kernkraftwerk für sich, und das damalige Management erhielt ein umfangreiches Drehbuch für einen Action-Film: Böse Terroristen besetzen ein Kernkraftwerk in New York und bedrohen die Welt. Dolph Lundgren sollte die Hauptrolle spielen. Alle waren begeistert, und es wurde ein Vertrag mit der Filmfirma in Hollywood ausgehandelt. Lundgren hatte bereits zwei Tage gedreht, doch auch dieses Projekt sollte das Schicksal von Zwentendorf ereilen. Die österreichische Produktionsfirma ging in Konkurs, die Dreharbeiten mussten abgebrochen werden. Was folgte, war ein jahrelanger Streit um die Filmrechte an den in Österreich gedrehten Szenen. Irgendwann entschied Hollywood dann, die Szenen in einem Schweizer Atomkraftwerk neu zu drehen. Zwentendorf ist nicht nur ein Ort der verpassten Möglichkeiten, sondern auch ein Ort des Widerstands und der Erinnerung. Das alte AKW dient zudem als internationales Rückbautrainingszentrum, es üben Industriekletterer – und sogar Greenpeace-Aktivisten das Besetzen von Kraftwerken!
Die EVN bietet regelmäßig Führungen durch das Atomkraftwerk an, die sich großer Beliebtheit erfreuen und binnen zwei Minuten ausgebucht sind, sobald sie alle zwei Monate auf der Homepage des Energieversorgers angekündigt werden. Die Nachfrage ist enorm, denn Zwentendorf zieht immer noch Menschen an, die sich selbst ein Bild dieses ungewöhnlichen Ortes machen möchten.



APA/HELMUT FOHRINGER