Turm der Narren und Lüste

Kultur / 13.07.2023 • 19:48 Uhr
Behälter aus Muranoglas, die der „Rakete“ den Treibstoff zuliefern.
Behälter aus Muranoglas, die der „Rakete“ den Treibstoff zuliefern.

Paul Renner und Christian Schramm rocken das Vorarlberg Museum.

Bregenz „Cuccagna“ (zu deutsch Schlaraffenland), so nannte man die meterhohen „Fress/Lebensmitteltürme“, die im Neapel des 18. Jahrhunderts auf öffentlichen Plätzen aufgerichtet wurden, u. a. auf der heute sogenannten Piazza del Plebiscito.

In einem kollektiven Exzess plünderten Menschenmassen den riesigen Aufbau, vollgehängt mit Würsten, Speckschwarten, Gemüse, aber auch mit Tieren, die darauf angenagelt waren. So manch einer verlor bei dieser „Schlacht um’s kalte Buffett“ sein Leben. Zum Amüsement der Mächtigen, die als Sponsoren und Gönner dieser „Fresstürme“ auftraten. Sie machten sich lustig über ihr Volk, das meist Hunger litt. Brot und Spiele auch im 18. Jahrhundert. In sicherer Entfernung von einem ihrer Balkone, delektierten sie sich an dieser mörderischen Plünderung.

Berüchtigter Schriftsteller

Als einer der ersten beschreibt einer der berüchtigsten Schriftsteller aller Zeiten, Donatien Alphonse François, Comte de Sade, besser bekannt als Marquis de Sade, in seinem „Voyage d’Italie“ (Tagebuch seiner Italienreise) eine „Cuccagna“, „das allerbarbarischste Spektakel der Welt“. Der Vorarlberger Künstler Paul Renner kam erstmals mit den Cuccagnas in Berührung, als er davon Radierungen (aus den Jahren 1780/90) gesehen hatte, und seitdem ließ ihn dieses Thema nicht mehr los.

Renners Cuccagna ist nicht mehr mit allerlei Essbarem behangen, obwohl Lebensmittel für ihn auch Gestaltungsmittel darstellen, Renners Aufbau gleicht einem Turm oder einer Rakete, die 10 Meter hoch, im Atrium des Museums, „gen Himmel erhebt“.

Überzogen sind die vergoldeten Mehrschichtplatten mit Dammar, einem hellen klaren Baumharz, das die Cuccagna honigfarbenen schimmern lässt. Appliziert sind getrocknete und sterilisierte Lebensmittel, Samen und Blüten. Eine Augenweide.

Ein vergoldeter Flügel (auch in Vorarlberg gibt es vergoldete Flügel) steht Renners Cuccagna zur Seite bzw. stellt eine Art Gehäuse für die sich darin befindenden Behältern aus Muranoglas, die der „Rakete“ den Treibstoff zuliefern, damit sie eines Tages ihren Flug in die unendlichen Weiten des Universums antreten kann. Kunstwerke für sich sind die im Atrium zu sehenden Fotografien von Christian Schramm, der alle Cuccagnas von Renner dokumentiert hat: von Neapel über Brixen bis nach Lech. Auch Ausdruck einer Freundschaft – Renner und Schramm arbeiten seit 20 Jahren zusammen.

Rausch und Ekstase

Hemmungslosigkeit und Grenzüberschreitung sind auch Merkmale der Kunst von Paul Renner. Das Orgiastische, Frivole, Subversive, der Rausch und die Ekstase – all das fasziniert den Künstler Paul Renner, der einst Assistent des Aktionskünstlers Herman Nitsch war. Hingewiesen sei noch auf den wunderbaren Katalog mit einem ausführlichen Interview von Paul Renner und Ute Pfanner. THS

Ein vergoldeter Flügel steht Renners Cuccagna zur Seite.
Ein vergoldeter Flügel steht Renners Cuccagna zur Seite.
Renners Aufbau gleicht einem Turm oder einer Rakete, die sich zehn Meter hoch, im Atrium des Museums „gen Himmel erhebt“. VN/Steurer
Renners Aufbau gleicht einem Turm oder einer Rakete, die sich zehn Meter hoch, im Atrium des Museums „gen Himmel erhebt“. VN/Steurer
Der Vorarlberger Künstler Paul Renner und sein Fotograf Christian Schramm trumpfen im Atrium des Vorarlberg Museums groß auf.
Der Vorarlberger Künstler Paul Renner und sein Fotograf Christian Schramm trumpfen im Atrium des Vorarlberg Museums groß auf.