Die Spitzenköchin

Für die Stärkung der Dorfgemeinschaft, für die Hebung der gastronomischen Qualität und die Entwicklung des Fremdenverkehrs waren in erster Linie tüchtige Wirtinnen verantwortlich. Von der Gaschurner Pionierin Viktoria Kessler war an dieser Stelle bereits ausführlich die Rede. Ebenso zählte die Schrunser Kronenwirtin Maria Mayer, die nicht nur für ihre Küche bekannt war, sondern auch für ihre Bildung, zu diesen Pionierinnen. Mit Gästen wie Arthur Schnitzler konnte sie kompetent über Literatur diskutieren. Auch Ludwina Fritz, die legendäre Wirtin an der Walserschanz und Postmeisterin, wusste nicht nur mit rauen Fuhrleuten umzugehen, sondern über den legalen und illegalen Personen- und Warenverkehr zu Bayern besser Bescheid als die Zöllner.
Eine andere „landauf und landab bekannte Wirtin“ (Vorarlberger Volksblatt 27. 2. 1900) war Maria Josefa Mayer, geborene Schreiber, aus Rankweil. Hier gab es schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wegen der Wallfahrt und der Viehmärkte 14 Gasthäuser, keines aber konnte, was die Küche anlangte, mit dem Hecht mithalten. Alle bürgerlichen Vereine, an vorderster Stelle der Vorarlberger Landwirtschaftsverein, der Alpenverein, der Kinderrettungsverein, der Lehrerverein, der Obstbauverein, der Viehversicherungsverein, Krankenkassen- und Gewerbevereine, der Vorarlberger Presseverein sowie der Cäzilienverein tagten am liebsten im Hecht, weil man hier nach abgearbeiteter Tagesordnung ausgezeichnet speisen konnte.
Auch Vorträge für ein landesweites Publikum fanden im Hecht statt. Unter den zahlreichen Teilnehmern an einem Vortrag über Obstbau, schrieb das Volksblatt im Dezember 1875, „sah man auch Geistliche, Vorsteher, Lehrer, Gemeinderäte, Landtagsabgeordnete, Liberale und Konservative in schöner Eintracht versammelt, so dass der große Saal nicht alle zu fassen vermochte, es mögen gegen 200 gewesen sein“. Auch bei anderen Veranstaltungen im Hecht sah man politische Gegner bei gemeinsamem Mahl. Gutes Essen verband über Parteigrenzen hinweg. Zumindest meist: Bei einer Primiz im Sommer 1892 weigerten sich einige zum Festmahl geladene Pfarrer und Kapläne, den Hecht zu betreten, da dort unter anderen Zeitungen der deutschliberale „Volksfreund“ aufliege. Sie gingen in ein anderes Gasthaus und ließen sich den Festschmaus aus dem Hecht dorthin bringen.
Vom Dienstmädchen zur Wirtin
An harte Arbeit war Josefa Schreiber-Mayer von frühester Kindheit an gewöhnt. Als 17. von den 18 Kindern der Eheleute Kreszentia Jenni und des Glasermeisters Alois Schreiber am 30. September 1824 in Altenstadt geboren, verbrachte sie eine schwierige Kindheit. Von den Geburten neun bis 18 war Josefa das einzige Kind, welches das Erwachsenenalter erreichte. Schon als junges Mädchen musste sie deshalb der erschöpften Mutter zur Hand gehen. Nach deren Tod nahm sie Arbeit bei der verwandten Familie Mayer im Rankweiler Hecht an.
Da konnte sich der zukünftige Wirt Franz Michael Mayer täglich von der Tüchtigkeit und Herzlichkeit der Josefa Schreiber ein Bild machen. Der Wertschätzung folgte die Eheschließung der beiden, und das bisherige Dienstmädchen fungierte ab 1850 als Hechtwirtin. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1900 blieben ihr nun 50 bewegte Jahre, in denen sie sich zu einer „Geschäftsfrau, Wirtin und Mutter, die ihresgleichen suchte“, entwickelte und die sich durch ihr Wirken „allseitiger Hochachtung und Wertschätzung erfreute“. So die Feldkircher Zeitung in einem kurzen Nachruf für die Hechtwirtin am 3. 3. 1900. Feldkircher und Dornbirner Unternehmer waren es denn auch, die zu einem erheblichen Teil Hochzeiten im Hecht feierten, weil hier Küche und Keller ein überregionales Renommee besaßen. Bei solchen feierlichen Anlässen wurde in einer Fülle aufgetischt, wie man sie sich heute kaum mehr vorstellen kann. Wenn in der Folge ein solches Menü vorgestellt wird, ist zu bedenken, dass es sich dabei nicht um hintereinander gereichte Tellergerichte handelte, sondern um Platten, die aufgetischt wurden und aus denen nach Vorliebe und Appetit geschöpft wurde. Nach den Aufzeichnungen des Hauses sah ein Festessen um 1850 folgendermaßen aus:
1. Suppe mit Knödeln
2. Gedünstete Leber
3. Rindfleisch, Nudeln, Randig
4. Kutteln
5. Verdämpftes (= eingemachtes Schaffleisch)
6. Pastete
7. Kraut und Schweinernes
8. Köhl mit gebratenem Kälberfuß
9. Enten mit Äpfeln
10. Ofenküchle mit Zwetschken
11. Wildbret mit Krapfen
12. Bratwürste
13. Kaupaune mit Mandelschnitten
14. Braten, Salat
15. Torten, Confekt
Im Laufe der Jahre veränderte die Küchenchefin diese üppigen Schlemmereien hin zu raffinierteren, weniger umfangreichen Menüs. Ab 1870 gab es „blaugekochte Forellen mit Mayonnaise“, nun auch zunehmend Kartoffeln und verschiedene Gemüse wie Karfiol sowie „Spargel mit holländischer Sauce“. Ein opulentes Mahl hatte aber auch damals seinen Preis: Für ein Mittagessen, das Landeshauptmann Jussel 1867 im Hecht eingenommen hatte, verrechnete der Wirt fünf Gulden. Das entsprach dem Wochenlohn eines Arbeiters.
Mit der Eröffnung der Vorarlberg-Bahn 1872 wurden in Rankweil intensive Bemühungen unternommen, um am aufkommenden Fremdenverkehr teilzuhaben. Im Hecht wurden deshalb die Remisen erweitert, im Obergeschoss vier Fremdenzimmer und ein weiß eingedeckter Speisesaal eingerichtet. Ein schattiger Biergarten mit Unterhaltungsmusik bildete eine weitere touristische Attraktion. Zur Kundschaft zählten nun schwäbische Honoratioren, Turner und Sänger aus St. Gallen sowie bayerische Bildungsbürger und Adelige. Sie alle logierten und speisten im Hecht, „dem schönsten der ungezählten Rankweiler Wirtshäuser“, wie die Schriftstellerin Grete Gulbransson konstatierte.
Auch der Wirt brachte durch sein öffentliches Engagement Kundschaft ins Haus. Er war anerkannter Obstbauer mit einem Musterobstgarten, in welchem Kurse abgehalten wurden; er ließ sich mehrfach in den Gemeindeausschuss wählen und fungierte etliche Jahre als wirtschaftlicher Verwalter der „Landesirrenanstalt“ Valduna. Im Hecht tagte und speiste auch regelmäßig der Verwaltungsrat dieser Einrichtung. Die amerikanische Schriftstellerin Edith O’Shaugnessy, die zwischen 1890 und 1914 jeden Sommer einige Wochen im Hecht logierte, um ihren in der Valduna untergebrachten Bruder zu besuchen, hat die Rollen der Eheleute Mayer – vermutlich nicht ganz vorurteilsfrei – scharf umrissen: Er verbreite zwar einen Hauch von Urbanität und habe mehr Geld als Hirn; dafür habe sie Energie und Hirn für beide.
Josefa Mayer wurde zudem nachgerühmt, dass sie nicht nur eine „tüchtige Wirtin, sondern auch eine musterhafte Hausmutter“ gewesen sei. Dass auch Letzteres der Realität entsprach, zeigen die Familienverhältnisse: Josefa Mayer schenkte zwischen 1852 und 1867 acht Kindern das Leben. Sieben davon erreichten das Erwachsenenalter und wurden zu wertvollen Mitgliedern der dörflichen Gesellschaft. Die Töchter Sophie und Luise blieben ledig und führten zu zweit das Lebenswerk ihrer Mutter fort; die eine als Köchin, die andere als Wirtin. Sohn Franz übernahm das Gasthaus Taube, dessen Wirt bei seinem Tod bei Mayers tief verschuldet gewesen war. Ein weiterer Sohn führte eine Badwirtschaft bei Zürich. Tochter Amalia wurde durch Heirat Wirtin im Schwarzen Adler.
Als Josefa Mayer am 24. Februar 1900 an Influenza starb, war die Anteilnahme am Tod „dieser allgemein geachteten Frau“ (Bregenzer Tagblatt 3. 3. 1900) ungewöhnlich groß. Dem Korrespondenten der Landeszeitung schien anlässlich des Begräbnisses erwähnenswert, dass die „Beteiligung, besonders der männlichen Bevölkerung von Rankweil und Umgebung sehr groß“ gewesen sei. Das Volksblatt (1. 3. 1900) berichtete, dass „die bestbekannte Frau Hechtwirtin in Begleitung einer großen Menge Volks zu Grabe getragen“ worden sei. Statt der zahlreichen Kränze, wurde aber gleichzeitig moniert, wären Spenden an den sozialen Vinzenz-Verein, dessen Mitglied die Verstorbene gewesen sei, sinnvoller gewesen. Bei keiner Beerdigung eines Mannes wurde je eine solche Anmerkung angebracht.
Mit dem Tod der Hechtwirtin war nicht nur das arbeitsreiche Leben einer besonderen Frau zu Ende gegangen, sondern auch ein Jahrhundert, in dessen letzten Dezennien sich ein merklicher Wohlstand entwickelt hatte, der sich auch in einer an Quantität und Qualität wachsenden Gastronomie zeigte. Josefa Mayer war eine der Pionierinnen dieser Epoche: als versierte und qualitätsbewusste Köchin, als umsichtige Wirtin und geschätzte Gastgeberin. Ein Bild von Frau Mayer existiert nicht, da das Gasthaus ab 1943 als Unterkunft für Südtiroler Optantenfamilien ausgeräumt und 2019 abgebrochen wurde.



Der Historiker Meinrad Pichler stellt in der Serie „Avantgarde“ historische Persönlichkeiten in und aus Vorarlberg vor, die auf wirtschaftlichem, sozialem oder kulturellem Gebiet vorangegangen sind beziehungsweise vorausgedacht haben und damit über ihre Zeit hinaus wirksam wurden. Neben biografischen Stationen gilt es deshalb vor allem zu zeigen, was diese Personen öffentlich Bleibendes geschaffen, erfunden oder erdacht haben. Da durch aktuelle Gegebenheiten wieder vieles neu gedacht und eingerichtet werden muss, sind innovative Köpfe immer gefragt.