Der Geschichtenerzähler ist zurück

Kultur / 29.09.2023 • 18:14 Uhr
Das Schöne, 59 BegeisterungenMichael Köhlmeier, Hanser Verlag, 230 Seiten

Das Schöne, 59 Begeisterungen

Michael Köhlmeier, Hanser Verlag, 230 Seiten

Den DJ erkennt man an der Auswahl seiner Lieder, den Essayisten an der Auswahl seiner gedruckten Essays.

Begeisterungen Michael Köhlmeier schreibt gerne und viel. Ein Teil seines Outputs sind Essays beziehungsweise Gedanken, die in den unterschiedlichsten Qualitätsmedien abgedruckt werden. Manches dürfte neu erdacht worden sein, auf alle Fälle sind diese Essays nun im Sammelband „Das Schöne“ mit dem Untertitel „59 Begeisterungen“ abgedrückt. Natürlich geht es hier häufig um Kollegen oder um epochale Inhalte ihrer Literatur. Anna Karenina, Der Zauberberg, aber auch Beckett, Dürrenmatt oder „Herz der Finsternis“ sind gute Anspielpunkte. Wie gesagt, es ist immer sehr reizvoll, wenn ein Autor über andere Autoren schreibt. Dazu kommen noch Essays und Storys, wo das Leben vordergründig ist, zu lesen beispielsweise in „Keith Richards‘ linker Unterarm“. Natürlich sind seine Hörspielthemen wie Shakespeare oder die Nibelungen auch immer ein Teil des Ganzen. Aber es geht um mehr.

Die Welt erfahren und erfassen

Wer in der Zeit von Axel Cortis „Der Schalldämpfer“ aufwuchs, weiß was es bedeutet, regelmäßig einer Radiostimme zu folgen, die mit ihren Essays etwas zu sagen hat und auch mal als Gewissen für ein ganzes Land einspringen kann. Michael Köhlmeier hat etwas davon. Zum einen hat man beim Lesen seine Radiostimme im Ohr, zum anderen wartet man als Leser immer wieder auf diese Sätze, die eine Erkenntnis in sich bergen. Das ist wichtig, denn es ist ein Versprechen, das der Autor gegenüber dem Leser einlöst. Man hat durch Literatur ein Stück mehr von der Welt erfahren, als man vorher wusste, und das nicht, ohne emotionell mit auf eine Reise genommen worden zu sein.

Der Autor erwartet sich nicht, dass die Leser alles gelesen oder gesehen haben, von dem er berichtet, aber er formuliert die Beiträge so, dass die Leser mitmarschieren können, wie mit einem Bergführer, ohne den sie den Aufstieg zum Gipfelkreuz wahrscheinlich nicht geschafft hätten. Plötzlich wird das Paradoxe verständlich, das Absurde weicht der Komödie, Köhlmeier geht mit einem Rucksack voller Geschichten durchs Leben, die nicht mehr und nicht weniger als sein Verständnis der Welt beinhalten. Vielleicht ist es auch die unaufdringliche Intelligenz, die Köhlmeier in seine Texte einfließen lässt, sie schließt niemanden aus, sondern hält die Tür zur Geschichte sperrangelweit geöffnet: Einsteigen bitte!

Ein Tattoostudio in Schieflage

Die Tätowiererin Luz kehrt in ihre Heimat, eine kleine Ruhrpott-Stadt zwischen Dortmund und Duisburg, zurück. Nach einigen Job-Absagen von den hippsten Tattoostudios der Stadt, landet Luz in der Bruchbude „No Regrets“, einem zwielichtigen, in die Jahre gekommenen Laden, in einem Viertel, in dem man nachts nicht gerne allein unterwegs ist. Im „No Regrets“ lernt Luz die Tätowierer Muddy, Hänk und Rudi kennen, die sie zunächst mehr wie ein Alien als eine Kollegin betrachten. Dazu läuft das Geschäft schlecht und die Kunden bleiben aus, so will Luz frischen Wind in den Laden bringen und geht mit Hänk, einem „Ruhrpott-Original“, der – besonders was das Tätowieren betrifft – nicht mit der Zeit gehen will, in Konfrontation und stellt das „No Regrets“ auf den Kopf. Die Stimmung ist angespannt – ob das gutgeht? Die Autorin Dietlind Falk kommt aus dem Pott, spielt in einer Punkband und ist selbst tätowiert – das spürt der Leser: Falk beschreibt in „No Regrets“ eine reale, greifbare Tattooszene und erzeugt ein ungeschöntes Ebenbild eines Viertels, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, mit einem gewissen Charme und Sarkasmus. „No Regrets“ ist eine fesselnde Geschichte über vier verlorene Seelen, Freundschaft und Zusammenhalt.

No RegretsDietlind Falk, 223 Seiten, hanserblau

No Regrets

Dietlind Falk, 223 Seiten, hanserblau