Die Länder machen den Unterschied

Kultur / 17.11.2023 • 18:15 Uhr
BournvilleJonathan Coe, Folio Verlag, 403 Seiten

Bournville

Jonathan Coe, Folio Verlag, 403 Seiten

New York City, Harlem und die englischen Midlands – zwei unterschiedliche Welten, in beiden ist man auf Tatendrang aus.

Roman In Englands Midlands sagen sich seit jeher Fuchs und Hase gute Nacht, nichts ist englischer als dieser Landabschnitt. Bournville liegt in ihrem Herzen. Heute ein Teil Birminghams, war Bournville um den Zweiten Weltkrieg herum eine eigenständige Kleinstadt, die in England für ihre Schokolade berühmt war, die dort seit rund 100 Jahren erzeugt wird. Listig schreibt hier Jonathan Coe mit dem Titel „Bournville“ einen verschachtelten Roman über drei Generationen einer Familie in sieben Abschnitten. Die Abschnitte sind durchaus aus englischer Sicht gewählt: Häupter werden gekrönt, Prinzessinnen sterben, mittendrin wird 1966 eine Fußball-WM gegen Deutschland gewonnen, bis hin zu Brexit und Corona.

Der Geruch von Lamm mit Minze

Ausgangspunkt ist die Familie Lamb um Mutter Marry, sie kommt der verstorbenen Mutter des Autors sehr nahe. Um sie wird nun ein inhaltliches Trapez aus unterschiedlichen Charakteren gespannt, die quasi die politischen Meinungen Englands der letzten Jahrzehnte abbilden. Dazu passieren viele epochale Ereignisse, die Anschaffung des ersten Radios, des TV-Apparats, sowie die Hoffnung, die die Briten noch in die Automarke British-Leylands setzen. Und eben immer wieder englische Schokolade, an der beispielhaft gezeigt wird, wie der EWR, später die EU, Großbritannien schon immer gerne in die Zwickmühle nahm und schließlich auch einen gravierenden Beitrag am Abschied Großbritanniens aus der Hauptschlagader Europas leistete.

Jonathan Coe erklärt sehr impulsiv seine Welt: Die Menschen sind Teil eines rasanten Fortschritts, der zugleich nur durch einen wiederum von der Menschheit gelebten Humanismus bewerkstelligt werden kann. Der Roman ist so englisch wie Lamm mit Minzsauce, Bier ohne Schaum oder der auf sich gerichtete Blick, der Resteuropa zweitklassig erscheinen lässt. Das Buch speist sich aus der Befindlichkeit der englischen Mittelklasse, Coe kann dazu wie kaum ein anderer deren Gemütslage in ein paar Sätzen festhalten. Coe ist sozusagen der Seismograph der Stimmung einer Nation, in Zeiten der Krise, in denen treffende Antworten rar sind, kaum wegzudenken.

New York City der 1970er-Jahre, Stadtteil Harlem. Epizentrum der afroamerikanischen Intellektuellen, Kultur und Politik, aber auch ein hartes Pflaster – Prostitution, Gewalt, Korruption und Brandstiftung. Genau dort spielt Colson Whiteheads neuer Roman „Die Regeln des Spiels“, Fortsetzung des ersten Teils „Harlem Shuffle“. Zur Rahmenhandlung: Ray Carney ist seit Langem aus kriminellen Geschäften ausgestiegen und widmet sich seinem Möbelgeschäft. In den frühen 1970er-Jahren zieht es den Ex-Ganoven jedoch wieder in die Gesetzlosigkeit. Carneys Tochter ist großer Fan der „Jackson Five“ und will das Konzert besuchen. Die Krux an der Sache? Das Konzert ist restlos ausverkauft. Carney nimmt daraufhin Kontakt mit einem korrupten Polizisten auf. Der Deal: Für den einen oder anderen Auftrag bekommt er die Tickets. Und schon ist er wieder mitten im Geschäft.

Realitätsnahes Harlem

Obwohl Whitehead ein gefährliches, lebhaftes Harlem und eine realitätsnahe, aus soziologischer Perspektive durchaus spannende Stimmung beschreibt – es herrscht Rassismus, Anarchie und Korruption – wirkt die Geschichte stellenweise langatmig. Die Dialoge zwischen Whiteheads Figuren sind einerseits anspruchsvoll und lebensecht, andererseits vereinzelt schwer zu verstehen, daran leidet der Lesefluss. Zwar ist der Roman in sich schlüssig, dennoch schadet es nicht, mit dem ersten Teil „Harlem Shuffle“ zu beginnen – die Weihnachtsfeiertage stehen schließlich vor der Tür!

Die Regeln des SpielsColson Whitehead, Hanser, 384 Seiten

Die Regeln des Spiels

Colson Whitehead, Hanser, 384 Seiten