Mit verstaubten Traditionen brechen

Der Schmusechor unter der Leitung von Verena Giesinger schreibt mit besonderem Neujahrskonzert Geschichte.
Wien, Altach Zum Jahreswechsel wird ein neues Kapitel in der Geschichte der Neujahrskonzerte aufgeschlagen. Die Vorarlbergerin Verena Giesinger (36) lädt mit ihrem Schmusechor zum ersten queerfeministischen Neujahrskonzert im Wiener WUK. Seit fünf Jahren leitet die aus Altach stammende Dirigentin den Wiener Chor, der sich mit schillernden Auftritten und bunten Musikvideos in der österreichischen Musiklandschaft einen Namen gemacht hat. Im VN-Interview berichtet Verena Giesinger über das besondere Konzert, die Beweggründe und das verstaubte Image des klassischen Wiener Neujahrskonzerts.
Wie kam die Idee, ein queerfeministisches Neujahrskonzert zu veranstalten?
Giesinger Der erste Impuls kam mir bei einer Auszeit in den Bergen im Brandnertal Anfang 2023, als ich mir in aller Feierlichkeit nach mehreren Jahren mal das vielerorts gelobte Wiener Neujahrskonzert angesehen habe. Abgesehen davon, dass mehrere Traditionen der sogenannten „österreichischen Hochkultur“ dringend entstaubt und ins Jetzt übersetzt gehören, hat mich ein Interview des damaligen Dirigenten inspiriert bzw. provoziert. Das Neujahrskonzert wurde bisher ausschließlich von Männern dirigiert. Auf die Frage, weshalb in der Geschichte noch nie eine Frau dirigiert hat, antwortete der Dirigent mit „es kommt hierbei nicht auf das Geschlecht, sondern auf die Erfahrung an, die man in Orchestern gesammelt hat. Das ist eine künstlerische Frage, keine politische, denn fürs Neujahrskonzert gilt schlicht: Das ist das Komplexeste, was man dirigieren kann.“ Jetzt wissen wir es also, das Neujahrskonzert ist zu komplex für nicht männliche Dirigierende. Das erste queerfeministische Neujahrskonzert war somit geboren.
Welches Statement möchtet ihr mit eurem Konzert setzen?
Giesinger In erster Linie wollen wir ein Wien bzw. Österreich auf die Bühne bringen, wie wir es tatsächlich im Alltag und im künstlerischen Schaffen täglich erleben. Wir wollen die Vielfalt zeigen, die für unsere Stadt steht, sie definiert und uns inspiriert. Wir wollen eine Vision kreieren, wie wir uns die Zukunft wünschen. Nämlich frei von Diskriminierung, weg von rein männlichem Line-up und gefüllt mit möglichst vielen verschiedenen Rolemodels.
Wie verstaubt ist eurer Meinung nach das klassische Wiener Neujahrskonzert?
Giesinger Wir finden: Sehr. Angefangen bei der Musik, die nahezu ausschließlich oder gänzlich von Männern komponiert wurde, über die Videoeinspielungen, bei denen das „klassische“ Wien oder Österreich gezeigt wird, bis hin zum Blumenschmuck, den eindimensionalen Körperbildern der Balletttanzenden sowie der fehlenden Sichtbarkeit einer nicht männerdominierten Besetzung im Orchester – vieles davon erlebe ich als nicht zeitgemäß und repräsentativ.
Wie würdet ihr die Situation von Frauen in der Musikbranche beurteilen? Wo besteht Handlungsbedarf?
Giesinger Handlungsbedarf besteht an allen Ecken und Enden. Die Debatte um nicht männliche Dirigenten beim Neujahrskonzert steht für uns stellvertretend für die vielen Missstände in Österreichs Musikbranche. Ich erlebe in meinem beruflichen Alltag ständig strukturelle Diskriminierung, die bei fehlender Augenhöhe mit Veranstalterinnen und Veranstaltern anfängt und sich nicht zuletzt in der Zusammenarbeit mit Tontechnikern äußert, bei denen ich mich die ersten Minuten von unseren Soundchecks immer wieder aufs Neue profilieren muss. Es ist ein durchaus mühevoller Kraftakt, sich als Frau in der Musikbranche durchzusetzen, der jeden Tag aufs Neue eine bewusste Entscheidung und viel Energie benötigt. Ich habe das Glück, dass der Schmusechor eine bestärkende Community für mich ist. Mit dieser Rückendeckung haut mich zum Glück so schnell nichts um. Das wünsche ich uns allen.
Was gibt es von euch zu hören und wie ist die Liederauswahl erfolgt?
Giesinger Das Neujahrskonzert im Musikverein bietet unbegrenzt Themen, die wir als Referenzen und Inspiration für die Kuration eines neuen, hoffentlich zukunftsweisenden Abends heranziehen können. Unser Programm wird Bezug nehmen, Verbindungen schaffen, aber auch bewusst mit den verstaubten Traditionen brechen und sie endlich in ein 2024 übersetzen. Ein Verflechten von Klassik mit zeitgenössischem Pop, kombiniert mit Hebefiguren aus dem Ballett, einer majestätischen Adaption vom Walzer, entweder von FLINTA* Personen (Anm. der Redaktion: steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen) komponiert, kreiert oder mit feministischen Männern gemeinsam präsentiert.
Es heißt, auf Walzer und Streicher müssen Besucher aber nicht verzichten. Es war euch also auch wichtig, dass die Tradition trotzdem berücksichtigt wird?
Giesinger Unsere Musik gemeinsam mit Streicherinnen zu erweitern, ist ein langjähriger Traum von mir, den wir uns nun endlich erfüllen werden. Die Besucher können sich auf eine ganz besondere Distorsion bzw. Adaption dieser Form der Musik freuen. Und selbstverständlich werden wir uns des Walzers annehmen, sind wir doch alle damit in der einen oder anderen Form aufgewachsen oder in Berührung gekommen.
Das Konzert war innerhalb von Sekunden ausverkauft. Hättet ihr mit dieser Resonanz gerechnet?
Giesinger Im ersten Moment dachte ich, es handle sich um einen technischen Fehler. Nach einem bestätigenden Anruf bei den Veranstaltern des WUK Wien, dass wir wirklich in 40 Sekunden den ersten Termin ausverkauft haben, wusste ich nicht, wie mir geschieht. Für uns ist dieser überirdisch schnelle Ausverkauf von zwei Terminen einfach ein wundervoller Zuspruch, dass wir mit dem Thema einen Nerv getroffen haben und unsere Arbeit wertgeschätzt wird.
Für alle jene, die ein Ticket ergattert haben. Worauf darf man sich besonders freuen?
Giesinger Es wird eine Explosion, so viel kann gesagt sein. Für alle, die nicht kommen können: Es wird einen Live-Stream auf unserer Webseite geben, das heißt: Sogar in Vorarlberg kann man das erste queerfeministische Neujahrskonzert miterleben. VN-TAS
Schmusechor Neujahrskonzert: 5. und 6. Jänner 2024 im WUK, Wien (ausverkauft). Livestream und Infos unter: www.schmusechor.at