70 Minuten Neue Musik im Dunkeln

Hinreißende Aufführung von Georg Friedrich Haas‘ „Solstices“ in Dornbirn
Dornbirn „Aventiure, was ist das?“ fragt ein wilder Waldmensch den Ritter Kalogreant in Hartmann von Aues Versepos „Iwein“, als dieser ihm sagt, er suche Aventiure. Eine ganz besondere Art von Aventiure (Abenteuer, Bewährungsprobe) erlebte man bei der Aufführung von Georg Friedrich Haas‘ Komposition „Solstices für zehn Instrumente“ (2018), die am 24. Februar im ORF-Studio Dornbirn stattfand: Das Stück, das 2023 bereits mit dem Walk-Tanztheater in Dornbirn gezeigt wurde, erklang hier zum ersten Mal in Österreich in völliger Dunkelheit. Zudem wurde die Aufführung für eine CD-Produktion live mitgeschnitten.
Der im Montafon aufgewachsene und seit 2013 an der Columbia University in New York lehrende Haas ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Komponisten. Seit 2001 experimentiert er mit dem Faktor Dunkelheit: drei seiner Streichquartette und andere Werke verlangen diese spezielle Disposition, „Solstices“ ist mit siebzig Minuten das längste.

Ein solches Arrangement fordert vom Publikum, sich intensiv auf die ungewohnte Situation einzulassen. Noch höher sind aber die Anforderungen an die Interpretinnen und Interpreten, die ohne Noten spielen. Im Programmheft weist das Ensemble Plus selbst darauf hin, dass die vierundvierzig „hochkomplexen Seiten“ der Partitur „auf den ersten Blick im Dunkeln unspielbar“ zu sein scheinen. Die zehn Mitwirkenden haben sich da wahrlich auf eine Bewährungsprobe und auf ein Abenteuer eingelassen: Die Partitur besteht aus einem Wechsel von auskomponierten Passagen und Teilen, in denen Impulse von einzelnen Spielern ausgehen. Das extrem genaue Hören und Reagieren aufeinander ist bei dieser Art von Musik unabdingbar.

Groß war somit die Erwartung am Samstagabend im vollbesetzten ORF-Studio. Leider klappte es mit dem absoluten Dunkel nicht ganz: An der linken Wand schimmerten ein paar Lichtpunkte, die Ensemble und Publikum etwas irritierten. Nach einem einleitenden diffus vibrierenden Klangteppich formte sich nach und nach ein ruhiges, harmonisches Klangfeld mit Dur-Dreiklängen heraus, das entfernt an alpenländische Musik erinnerte und große Ruhe und Frieden ausstrahlte. Es war ein Hörerlebnis von absoluter Intensität, bei dem die Spannung nie nachließ, denn die Idylle wurde von rhythmisch hämmernden, sich steigernden Passagen abgelöst, einmal ertönte ein markerschütternder Schrei und in den ersten Reihen waren die Trommelfelle bei einem Fortissimo-Ausbruch aller Instrumente gefährdet, dann wieder spielte die Flöte allein oder es erklangen lautmalerische Geräusche: Wasser wurde ausgegossen, was an das Rauschen eines Baches erinnerte, dann raschelte es wie dürres Laub.
Aufgrund Ihrer Datenschutzeinstellungen wird an dieser Stelle kein Inhalt von Youtube angezeigt.
Überraschend abwechslungsreich, mit feinsten, mikrotonalen Klangnuancen verging die Zeit wie im Flug. Jeder Hörer hatte sicher auch eigene Bildvorstellungen: Vor mir stieg eine Gebirgslandschaft auf, manchmal pastoral, dann von Katastrophen heimgesucht, eine Art minimalistischer Alpensymphonie
Es ist eine große Ehre, dass Haas dem Ensemble Plus die erste CD-Einspielung von „Solstices“ anvertraut hat. Die Musikerinnen und Musiker haben diese Herausforderung bravourös gemeistert: Mit dieser hinreißenden Interpretation haben sie ihren Ritterschlag erhalten.
Ulrike Längle