Kein Feiertag und doch ein Fest

Gut Ding braucht Weile: Was zu beweisen war.
Schwarzach Kurz vor dem Marienfeiertag im August erreichte mich die Frage, ob ich nicht für ein, zwei Tage mitfahren wolle nach Splügen. Und ob ich wollte! Seit dem jugendlichen Abenteuer einer Radtour via Splügenpass – Bellinzona – San Bernardino vor annähernd 50 Jahren schiebe ich diesen Besuch im Dorf Splügen vor mir her, immer wieder angeheizt von allzu eiligen Vorbeifahrten auf dem Weg nach Süden. Die Kirche oben am Hang, die mächtigen, mit Schieferplatten gedeckten Häuser im Dorfkern und nicht zuletzt die imposanten Berggipfel rundum waren eine zunehmend dringlichere Einladung, zu verweilen. Und überhaupt: Graubünden mit seiner jahrhundertealten Kultur und Geschichte, die der unsern natürlich irgendwie verwandt und durch die Nähe zu Italien doch eine wesentlich buntere ist. Stets war die Sehnsucht vorhanden, tiefer einzutauchen. Jetzt ist es wahr geworden.

Am Dorfplatz plätschert ein Brunnen und von hoch oben rauscht ein klarer Bach daher. Behäbig steht da seit 300 Jahren das Hôtel (!) Bodenhaus. Hier hat schon Nietzsche im Jahr 1872 ein Kämmerchen bewohnt, Prof. Röntgen, Albert Einstein und ruhebedürftige, Kühling und frische Luft suchende englische Reisende zählten immer wieder zu den Gästen, auch mehr oder weniger gekrönte Häupter wie Napoleon III. Die Bedienungen im Haus sind noch Saaltöchter, die Bündner Nusstorte ist ein Gedicht und die elegante Steintreppe im Innern des Hauses würde jedem italienischen Palazzo zur Ehre gereichen. Eine richtige Bäckerei, ein stolzer Metzger (so nennt er sich), ein Molkereiladen, ein Supermärktle und ein Antiquariat sorgen für den täglichen Bedarf.
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Dann, am 15. August, da alle Welt Ferragosto feiert und Ferien macht, wird im schweizerischen Dorf in bester werktäglicher Laune gearbeitet. Die privilegierte Urlauberin schnürt die Wanderschuhe und macht sich auf den Weg. Aber nicht auf einen x-beliebigen, sondern auf den historischen Saumpfad hinauf zum Splügenpass. Die Säumerei war bis tief ins 19. Jahrhundert hinein das Hauptgeschäft der lokalen Bevölkerung, noch vor der Landwirtschaft. Auch die Geschichte der Vorarlberger Käsgrafen und ihres Wohlstands ist ja eng verbunden mit dieser Route, auf welcher der Käse nicht nur in die Lombardei transportiert wurde. Obwohl sich die Anstrengung für die heutigen, gut ausgerüsteten Wanderer in Grenzen hält – in gut zweieinhalb Stunden ist die Splügenpasshöhe auf 2114 Metern ü. M. erreicht –, werde ich auf dem noch gut erkennbar mit großen und kleineren Steinplatten ausgelegten Weg von einem Gefühl des Respekts, ja der Ehrfurcht vor jenen Menschen und Tieren, die bei oft unwirtlichsten und gefährlichen Verhältnissen den steilen Weg gemeistert haben, begleitet. Umso mehr, als nicht das Vergnügen des Wanderns oder der Bewegung in der Bergluft ihre Motivation gewesen ist; ganz im Gegensatz zu den Motorrad- und Sportwagenfahrern, die ihre übermotorisierten Maschinen durch die engen Kehren jagen. Das Fazit: Die eigene Trägheit und Ruhelosigkeit mehr noch als diesen und jenen Pass gilt es zu überwinden, um den Dingen, Landschaften und Menschen gerecht zu werden.
Peter Natter