Wer braucht schon Brauchtum?

Sechs Projekte aus Südtirol und Vorarlberg gingen der Frage nach: Was ist Tradition?
Bregenz Das von der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol und dem Land Vorarlberg geförderte Austauschprojekt ging in die zweite Runde. Der erste Austausch fand 2024 beim LanaLive Festival in Lana statt. Unter dem Titel „ReThinking.Traditions“ präsentierte das vorarlberg museum gemeinsam mit dem Vorarlberger Landestheater ein von den beiden Künstlern Bella Angora und Hannes Egger initiiertes Kunstaustauschprojekt zwischen den beiden Ländern. Sechs künstlerische Positionen (Vivienne Causemann, Barbara Gamper, Sophie Lazari, Bianca Lugmayr/Alex Kranabetter, Christine Lederer, Matthias Schönweger) setzen sich dabei performativ mit dem Themenkomplex Tradition auseinander.

Die Frage nach den Schnittstellen von Theater und Bildender Kunst stellte sich die Intendantin des Vorarlberg Theater, Stephanie Gräve, als die Kuratorin Bella Angora mit diesem Austauschprojekt auf sie zukam. „Es ist die Sehnsucht von Theaterleuten als Original-Künstlerinnen gesehen zu werden“, so Gräve bei ihrer Eröffnungsrede. Dieses Jahr ist voll und ganz dem Medium Performance gewidmet. Sechs ganz unterschiedliche Projekte aus beiden Ländern gehen der Frage nach: Was ist Tradition? Sollen Bräuche und Rituale auch heute noch gelebt werden und wenn, wie? „Oft werden Bräuche als etwas ‘Altes, das immer gleichbleibt’ angesehen”, so Kuratorin Bella Angora. „Sie helfen uns, einen inneren Rhythmus zu finden und stärken, trösten und beruhigen uns, wenn wir mit Stress, Hektik sowie neuen oder schwierigen Situationen konfrontiert werden. Welche Auswirkungen hat die Schnelllebigkeit in unserer modernen Gesellschaft auf die Bewahrung traditioneller Rituale?“, so die Überlegung von Kurator Hannes Egger.
Den Auftakt machte Sophie Lazari mit ihrer Performance „Resurrectionem Tarantula“ Sie bezieht sich dabei auf den in Apulien entstanden Volksglauben, dass ein Spinnenbiss bei Frauen eine Hysterie auslöst, die nur durch rituellen Tanz geheilt werden kann. Ihr Tanz besticht durch konvulsivische Zuckungen, die nach und nach verebben. Mit einem weißen Faden beginnt sie ein Netz zu spinnen, das von einzelnen Zuschauern jeweils mit einem Finger gehalten wird. Vernetzung, Verbindung und Ausweg? Manche Wissenschaftler verorten auch die Ursprünge des europäischen Phänomens des Totentanzes im süditalienischen Volkstanz, wobei die erste schriftliche Dokumentation des Tanzes erst beim Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kirchner (1602-1680) zu finden ist, also gut 300 Jahre nach der Entstehung der ersten Totentänze. Eine weitere äußerst humorvolle, aber auch energetische Performance präsentierte Christine Lederer mit „Lo spettacolo contemplativo / Nichts tun als optionales Spektakel“. Darf man überhaupt Nichts tun? „Das Nichtstun als Protest gegen den Kapitalismus“, so Lederer. „Kennen Sie das, sie kommen runter vom hektischen Alltag … und plötzlich fliegt eine summende Fliege um die Ecke …“ Na mehr braucht’s nicht. Vielleicht ist tatsächlich der letzte Zweck menschlicher Anstrengung die Untätigkeit? Gerne hätte man von Lederer noch mehr gesehen, eine geborene Performerin mit Energie, Witz, klugen Texten und toller Präsenz.
Last but not least Bianca Lugmayr und Alex Kranabetter mit “Sewing trumpet – visual audio tracks”. Mit einer Nähmaschine und einer Trompete ließen sie die Grenzen des konventionellen Trompetenspiels hinter sich und kreieren Musik zwischen freier Improvisation und elektroakustischer Klangkunst. „Am Anfang war das Wort“, so heißt es im Johannesevangelium. Aber ist nicht das gesprochene Wort auch ein Klang, ein Ton und brachte man damit die menschliche Seele zum Schwingen? Beeindruckend.
Thomas Schiretz