Triumphale “Elektra” mit neuer Klangdimension

Premiere der Richard Strauss Oper in der Orchesterfassung von Richard Dünser.
St. Gallen Die Premiere von Richard Strauss’ epochalem Meisterwerk „Elektra“ am Theater St. Gallen wurde zu einem triumphalen Abend, der musikalisch wie szenisch zu beeindrucken vermochte. Unter der musikalischen Leitung von Modestas Pitrenas erklang die ebenso intelligente wie raffinierte Orchesterfassung des Bregenzers Richard Dünser, der die monumentale Partitur gekonnt in eine transparente und zugleich kraftvolle Klangwelt übersetzte. Dünsers behutsame, aber mutige Bearbeitung des ursprünglich gigantischen Orchestersatzes bewahrte die klangliche Essenz und dramatische Intensität der Oper und ermöglichte zugleich neue, subtile Klangnuancen, die Strauss’ komplexe Tonsprache eindrucksvoll zur Geltung brachten. Pitrenas dirigierte souverän, präzise und mit viel Gespür für Dynamik und Struktur, so dass das Orchester stets als kraftvoller Dialogpartner der Sänger agierte.

Die Inszenierung der belgischen Regisseurin Lisaboa Houbrechts verlieh dem Abend eine beeindruckende visuelle Kraft. Unterstützt von Clémence Bezats stimmungsvollem, aber klaren Bühnenbild und Oumar Dickos prägnanten Kostümen entstand eine dichte, atmosphärische und zugleich moderne Interpretation des antiken Stoffes. Houbrechts Regie verstand es, die psychologische Tiefe und die obsessiven Gefühle der Figuren eindringlich sichtbar zu machen, ohne je ins plakativ Banale abzugleiten.

In der Titelpartie brillierte Eliška Weissová. Ihre Elektra war geprägt von schauspielerischer Präsenz und enormer stimmlicher Kraft, sie meisterte die äußerst anspruchsvolle Partie mit überwältigender Energie und zugleich subtiler psychologischer Gestaltung. Besonders beeindruckend war Weissovás Fähigkeit, die inneren Brüche und seelischen Qualen ihrer Figur nuanciert darzustellen und dem Publikum eine tief bewegende Interpretation zu bieten.

An ihrer Seite überzeugte Sylvia D’Eramo als Chrysothemis mit lyrischer Klarheit und emotionaler Intensität. Ihre stets perfekt geführte Stimmführung brachte die Zerrissenheit und Sehnsucht ihrer Figur glaubhaft und berührend zum Ausdruck. Ariana Lucas als Klytämnestra verlieh ihrer Rolle beeindruckende Autorität und packende dramatische Tiefe. Ihre Stimme hatte jenes dunkle, geheimnisvolle Timbre, das perfekt zu Strauss’ Charakterisierung der Figur passte. Riccardo Botta gestaltete den Aegisth mit prägnanter Bühnenpräsenz und einer Stimme, die sowohl lyrisch als auch dramatisch überzeugte. Kristján Jóhannesson war ein würdiger, kraftvoller Orest, dessen stimmliche Autorität und überzeugende Darstellung die Heimkehrszene zu einem der Höhepunkte des Abends machten.

Besonders bemerkenswert war, wie Richard Dünsers Bearbeitung nicht nur praktisch motiviert erschien, sondern auch künstlerisch überzeugte. Geschickt nutzte er neue instrumentale Farben, darunter die subtil eingesetzten Becherdämpfer der Blechbläser sowie ein Harmonium, um die klanglichen Lücken der reduzierten Besetzung mit subtiler Originalität zu füllen. Diese orchestralen Details fügten sich subtil in die Gesamtdramaturgie ein, verliehen dem Klangbild aber eine besonders gelungene Frische und Klarheit, die die komplexe Dramaturgie der Oper bereicherte.

Insgesamt gelang dem Theater St. Gallen eine Aufführung, die Strauss’ radikaler musikalischer Vision eindrücklich Tribut zollte und zugleich neue Perspektiven eröffnete. Modestas Pitrenas und Lisaboa Houbrechts haben mit einem hervorragenden Ensemble und der klugen Orchesterfassung von Richard Dünser eine gelungene Inszenierung geschaffen. Mit ihrem Mut zur Neuinterpretation und ihrer künstlerischen Sensibilität haben sie eindrucksvoll bewiesen, dass „Elektra“ auch mehr als 100 Jahre nach ihrer Uraufführung nichts von ihrer Faszination und Aktualität verloren hat.