„Kein Kafka ohne Rilke!“

Kenntnisreicher Vortrag von Sandra Richter im Feldkircher Saumarkt über Rilkes Leben
Feldkirch Die Feldkircher Literaturtage, die nach mehreren thematischen Schwerpunkten heuer wieder einem einzigen Autor gewidmet waren, hätten nicht besser beginnen können. Sandra Richter, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart und seit 2019 Direktorin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, hat zum heurigen 150. Geburtstag Rilkes eine sehr gut aufgenommene Biografie vorgelegt: „Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben“. Mit Manfred Kochs Studie „Rilke. Dichter der Angst“ sind heuer bereits zwei gewichtige Biografien erschienen, drei weitere werden noch folgen. Damit schlägt das Interesse an Rilke erstaunlicherweise das an Thomas Mann, der Anfang Juni ebenfalls seinen 150. Geburtstag feiert.

Das und noch viel mehr erfuhr man in Richters sehr lebendig und anschaulich gestaltetem Vortrag. Die Autorin kann aus dem Vollen schöpfen, denn Marbach verfügt über eine der weltweit bedeutendsten Rilke-Sammlungen, die 2022 mit dem Erwerb des Rilke-Archivs Gernsbach um viele bisher unbekannte Materialien ergänzt werden konnte. Dadurch ergeben sich auch neue Gewichtungen verschiedener Werkphasen oder überhaupt neue Einsichten zu Leben und Werk. Das Bild des einsamen und unpolitischen, nur dem Höchsten verpflichteten Dichter-Sehers, das Rilke selbst und viele seiner Anhänger gepflegt haben, kann so nicht mehr aufrechterhalten werden.

Einen Schwerpunkt widmete Richter Rilkes Kindheit und Jugend im mehrsprachigen Prag, diesem „verschlossenen Schmelztiegel zwischen Ost und West“. Sie rehabilitierte die sonst verteufelte Mutter, die ihren Sohn gegen den Willen des Vaters zur Dichtung geführt hat, und beleuchtete die Rolle der „Wahlmütter“ in seinem Leben, berichtete über die erstaunliche Tatsache, dass der junge Rilke sich vor allem in tschechischen Dichterkreisen bewegt hat und mit seinen frühen Prag-Erzählungen, die surrealistische Züge aufweisen, die Grundlage für das spätere Wirken des Prager Kreises mit Kafka, Werfel, Brod etc. gelegt hat. „Kein Kafka ohne Rilke“ war eine der Einsichten dieses Abends. Dass er den tschechischen Reformator Jan Hus zu seinem Vorbild gemacht hat, erstaunt ebenso wie die Tatsache, dass er ein eifriger Zeichner war, der eigentlich mit Bildergeschichten begonnen hat.

Ins „Offene“ (ein Begriff, den Richter zentral für ihre Deutung verwendet) ging es dann mit den Stationen Worpswede, Paris (als Sekretär bei Rodin) und vielen anderen. Rilke war ja weitgereist und hat auch viele Postkarten verschickt, was man bisher nicht wusste. Offen war er auch in Sachen Geschlechtsidentität: Seine femininen Züge wurden von „virilen“ Zeitgenossen wie Karl Kraus oder Gottfried Benn heftig verspottet. Richter ist Rilke gegenüber nicht unkritisch: Auch wenn er bei sich weibliche Züge pflegte, war er höchst erbost, wenn seine Tochter Ruth sich wie ein Junge benehmen wollte. Immer wieder mit Bezügen zu Texten entstand so ein sehr facettenreiches Bild des Dichters, nicht frei von Widersprüchen.

Die vielfältigen Fakten und Bezüge, die Richter aufdeckte, wurden im Gespräch mit Philipp Schöbi unter reger Publikumsbeteiligung noch vertieft.
Ulrike Längle