“Unsere Familie neigt zu Tragödien”

Packende „Ifigenia in Tauride“ von Traetta in Innsbruck.
Ulrike Längle
Innsbruck Eigentlich passt Tommaso Traettas 1763 uraufgeführte Oper “Ifigenia in Tauride”, die am Mittwoch bei den Festwochen der Alten Musik in Innsbruck Premiere hatte, nicht als Fortsetzung zu Caldaras “Ifigenia in Aulide”, die vorher dort gespielt wurde. Bei Caldara gibt es ein Happy End, Ifigenia wird nicht geopfert, sondern mit Achill vermählt. Bei Traetta ist sie seit fünfzehn Jahren Priesterin in Tauris und muss alle Fremden, die dort ankommen, opfern. Als ihr Bruder Oreste, der als Muttermörder von den Erinnyen verfolgt wird, mit seinem Freund Pilade unerkannt und halb wahnsinnig in Tauris landet, weigert sie sich aus Mitleid, die Opferung durchzuführen. Pilade wird auf der Flucht ergriffen, Oreste kehrt zurück, um ihn zu retten – edelmütige Freundschaft und Mitleid sind zentrale Gefühle in dieser Version des antiken Stoffes. Und Verzweiflung, denn Ifigenia und Oreste wollen sterben. “Unsere Familie neigt zu Tragödien”, bemerkt Ifigenia einmal lapidar. Anders als bei Euripides, Gluck oder Goethe ersticht Ifigenia hier jedoch am Schluss wie eine zweite Judith den sadistischen Tyrannen Toante – ein starker Akzent für eine starke Frau.

Das Geschehen wird in eine stilisierte Gegenwart verlegt (Regie: Nicola Raab, die auch in Bregenz schon inszeniert hat; Bühne und Kostüm: Madeleine Boyd; Lichtdesign: Ralph Kopp). Während der Ouvertüre und wieder am Schluss werden effektvoll Meereswellen auf eine hohe Wand projiziert, vor der Ifigenia im dunkelgrünen Trenchcoat über einem knielangen weißen Kleid schwarzgekleidete Gestalten ersticht. Dori im langen griechischen Faltengewand wirkt optisch viel priesterlicher als Ifigenia. Toante tritt wie ein Geschäftsmann im Anzug auf, Oreste sieht wie ein Clochard aus. Am Schluss, als Ifigenia sowohl Dori als auch Oreste töten soll, tragen sie und Toante prachtvolle Roben des 18. Jahrhunderts. Die Drehbühne zeigt das Innere des Tempels mit einem von der Decke hängenden Fleischerhaken, die zwei rumpelkammerartigen Zimmer Ifigenias oder eine schlammgrüne Wand.

Die hochemotionale Musik von Traetta ist bereits frühklassisch, anders als bei Gluck jedoch mit virtuosen Koloraturarien ebenso wie mit seelenvollen Duetten, mit dramatischen Rezitativen und effektvollem Einsatz des Chores (NovoCanto). Die Sopranistin Rocío Pérez brillierte als Ifigenia, die ihre kräfteraubende Partie menschlich und musikalisch bewundernswert gestaltete, Karolina Bengtsson (Sopran) als Dori verströmte vornehme Wärme.

Rafal Tomkiewicz (Countertenor) verlieh den Seelenqualen des Oreste glaubhaften, gegen Ende etwas schwächeren Ausdruck, Suzanne Jerosme (Sopran) als Pilade sprudelte ihre halsbrecherischen Koloraturen nur so heraus. Der Tenor Alasdair Kent sang den Toante mit ein paar kleinen Schwächen als aalglatten Machtmenschen. Stark die Regieideen von Nicola Raab, die die nur im 1. Teil manchmal mühsamen Längen der Da-capo-Arien mit phantasievollen Bildern unterlegte, wenn z. B. Toante Ifigenia eine Art Henkersmahlzeit serviert.

Musikalisch lag die Gestaltung bei Christophe Rousset und den Talens Lyriques in den besten Händen: zügige Tempi, organische Steigerungen und ein farbiger Orchesterklang mit viel Hörnereinsatz und schönen Instrumentalsoli. Auch die dritte Opernpremiere des heurigen Festivals wurde mit großem Jubel vom Publikum belohnt.