„Romeo und Julia“ im Wilden Westen

Kultur / HEUTE • 10:19 Uhr
Romeo und Julia
Die St. Galler Eröffnungspremiere “Romeo und Julia” konnte das Publikum überzeugen. Edyta Dufaj


Mitreißende Premiere von Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ in St. Gallen.

St. Gallen Es herrscht atemlose Stille im Saal, als Julia den toten Romeo in ihrem Schoß hält. Man hört nur ihr leises Schluchzen, das Orchester pausiert, bevor sie einen herzzerreißenden „Oh Dio!“-Schrei ausstößt und selbst tot zusammenbricht. So endet Vincenzo Bellinis Oper „Romeo und Julia“ („I Capuleti e i Montecchi“), die am Samstag im Theater St. Gallen Premiere hatte. Felice Romanis Libretto fußt nicht auf Shakespeare, sondern auf der Erzählung von Bandello, die auch eine Quelle für den englischen Dramatiker war. Die bedingungslose Feindschaft zwischen den Capuleti und den Montecchi im Verona des 13. Jahrhunderts ist eigentlich ein Fall von Blutrache, da der Montecchio Romeo den Bruder Julias, der Tochter des Capuleti-Chefs Capellio, im Kampf getötet hat. Ein Versöhnungsangebot wird von Capellio abgelehnt, Julia soll nicht Romeo, sondern den verhassten Tebaldo heiraten. Romeo versucht Julia zur Flucht zu bewegen, sie kann sich aber nicht dazu entschließen, da sie sich auch ihrem Vater verpflichtet fühlt. Um sie vor dieser Heirat zu bewahren, gibt ihr Lorenzo den bekannten Schlaftrunk. Romeo, der nichts von dieser List erfährt, vergiftet sich an ihrem Grab, Julia erwacht – zu spät.

Romeo und Julia
Kali Hardwick (links) und Jennifer Panara (rechts). Edyta Dufaj

Die Regisseurin Pinar Karabulut, Co-Intendantin am Schauspielhaus Zürich, hat die Handlung in ein zeitloses minimalistisches Ambiente aus Western und Science Fiction verlegt. In der Bühnenmitte ragt auf einer Drehscheibe ein Sockel empor, auf dem sich die Liebenden treffen. Später senkt sich von oben eine Art Ufo herab und schließt Julia ein oder hebt sie in die Höhe (Bühne Michaela Flück). Der (Männer-)Chor wird auch szenisch intelligent eingesetzt: Die Capuleti treten in blauen Overalls mit Stiefeln und Cowboyhüten auf, die Montecchi später in Rot (Kostüm Teresa Vergho). Lediglich das Hüteschwenken und ein paar versuchte Tanzschritte am Anfang wirken unfreiwillig komisch. Das Bühnenbild wird von Leuchtröhren umrahmt (Licht Bernd Purkrabek/Philip Deblitz). Einen besonderen Akzent setzen fünf ausgesprochen schöne Pferdefiguren mit langen Mähnen. Gendersensibel interpretiert verkörpern die Capuleti das böse Patriarchat und sind nur Männer, während die Parteigänger des von einem Mezzo gesungenen Romeo zum Teil Frauen in Männerkostümen sind.

Romeo und Julia
Romeo und Julia in St. Gallen. Edyta Dufaj

Jennifer Panara als Romeo und Kali Hardwick (Sopran) als Julia hoben das Publikum in ihren Liebesduetten in den siebten Belcantohimmel. Panara brillierte in allen Lagen, gab durch ihre imposante Tiefe dem Romeo nicht nur gefühlsintensive, sondern auch kraftvolle Statur. Die Seelennuancen der verängstigten Julia zwischen Verzweiflung und Liebe gestaltete Hardwick mit gehauchtem Piano und leidenschaftlichem Ausdruck. Der harte Vater Capellio war bei dem kellertiefen Schweizer Bass Jonas Jud in den besten Händen, Lorenzo wurde, sonst ein Bass oder Bariton, hier etwas ungewöhnlich von dem Tenor Riccardo Botta temperamentvoll verkörpert. Lediglich Omar Mancini (Tenor) als Tebaldo erreichte nicht ganz die Strahlkraft der anderen Stimmen. Der erprobte Gastdirigent Michael Balke führte das Ensemble mit glänzend disponiertem Chor und Orchester stilsicher und in einem ununterbrochenen Spannungsbogen durch den Abend. Unter den Instrumentalsolisten verdient der Solohornist Zoltán Holb besonderes Lob. Das Publikum dankte im nicht ganz gefüllten Theater mit jubelndem Applaus für einen musikalisch wie szenisch überzeugenden Abend.

Ulrike Längle