Leuchtende Stimmen in zurückhaltender Bohème

Kultur / HEUTE • 10:28 Uhr
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Puccinis Oper überzeugt in St. Gallen durch ein überzeugendes Dirigat und einem starken Sängerensemble.Ludwig Olah

In St. Gallen setzt man auf musikalische Geschlossenheit statt auf szenische Effekte.

St. Gallen Puccinis „La Bohème“, diese zärtlich-melancholische Hymne an die Jugend, an Armut und Liebe, ist eine jener Opern, die, wenn sie gelingen, das Publikum unmittelbar berühren, weil sie keine großen Ideen verhandeln, sondern die Flüchtigkeit des Glücks in Musik fassen. Am Samstagabend zeigte das Theater St. Gallen eine Aufführung, die vor allem musikalisch überzeugte und in den Hauptpartien Momente echter Intensität bot, während die Regie sich auffallend zurückhielt.

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Ludwig OlahSylvia D’Eramo als Mimì mit Brian Michael Moore als Rodolfo.

Unter der Leitung von Modestas Pitrenas entfaltete das Sinfonieorchester St. Gallen den ganzen Reichtum von Puccinis Partitur: transparent, geschmeidig und mit einer klugen Balance zwischen zarter Klangpoesie und dramatischem Atem. Pitrenas’ Dirigat war detailbewusst, aber nie akademisch. Er ließ die lyrischen Linien singen und die orchestralen Zwischenspiele leuchten, ohne die Sänger je zu überdecken. Das berühmte Vorspiel des dritten Bildes – jene eisige Morgenstimmung vor dem Zolltor – gelang mit jener verhaltenen Spannung, die den Schmerz der Geschichte bereits in sich trägt.

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Ludwig OlahPuccinis „La Bohème“ in St. Gallen.

Die Inszenierung von Guta Rau wirkte hingegen, als habe sie sich bewusst in den Hintergrund gestellt. Vieles blieb andeutungsweise, manches schlicht unentschlossen. Zwar gab es einzelne schöne Momente, doch insgesamt fehlte eine klare szenische Idee. Dass Rau nicht versuchte, das Stück zu „aktualisieren“, war an sich sympathisch, doch die erzählerische Leere ließ zu oft die Musik allein für die Atmosphäre sorgen. Isabelle Kittnars Bühne blieb schlicht, Melina Poppes Kostüme trugen wenig zur Charakterzeichnung bei. Besonders unglücklich traf es den Dichter Rodolfo, dessen Kostüm ihn eher wie einen Schuljungen als wie einen verliebten Bohemien erscheinen ließ.

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Ludwig OlahPuccinis „La Bohème“ in St. Gallen.

Musikalisch jedoch wurde diese „Bohème“ von einer glänzenden Sylvia D’Eramo als Mimì getragen. Mit glasklarer Linienführung, einem reinen, silbrigen Timbre und einer berührenden Natürlichkeit in den Phrasen zeichnete sie eine Figur von großer Innigkeit. Ihr Spiel war ebenso zurückgenommen wie glaubwürdig und ihre Stimme schwebte mühelos über dem Orchester – in den leisen Momenten ebenso wie in den leidenschaftlichen Ausbrüchen.

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Ludwig OlahPuccinis „La Bohème“ in St. Gallen.

Brian Michael Moore als Rodolfo brachte stimmlich viel von dem mit, was diese Partie verlangt: Strahlkraft, Geschmeidigkeit und technische Sicherheit. Seine Stimme besitzt eine leuchtende Wendigkeit, die besonders in den Duetten beeindruckte. Nur gelegentlich wünschte man sich etwas mehr Wärme und Dunkelheit in der Mittellage, mehr von jener glühenden Italianità, die Puccinis Musik mit Leben füllt. Als Marcello überzeugte Vincenzo Neri mit einem kernigen, gut fokussierten Bariton, der die Freundschaftsszenen ebenso wie die Streitdialoge mit Musetta plastisch machte. Kali Hardwick gestaltete diese Musetta charmant und stimmlich souverän, ihr Sopran ist farbenreich, beweglich und frei von Manierismen.

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Ludwig OlahPuccinis „La Bohème“ in St. Gallen.

Das Ensemble um Felix Gygli (Schaunard), Jonas Jud (Colline) und Riccardo Botta (Benoît/Alcindor) bildete eine solide und spielfreudige Gemeinschaft. Der Chor und der Kinderchor des Theaters St. Gallen brachten in der Café-Momus-Szene das notwendige Pariser Treiben zum Klingen, ohne die Übersicht zu verlieren.

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Ludwig OlahPuccinis „La Bohème“ in St. Gallen.

Das Sinfonieorchester St. Gallen spielte mit bewundernswerter Geschlossenheit und klanglicher Sensibilität, verband die Wärme der Streicher mit feinen Holzbläserfarben und einer rhythmisch präzisen, doch atmenden Gestaltung. Unter der musikalischen Leitung von Modestas Pitrenas entfaltete sich eine Interpretation von großer Klarheit und innerer Spannung – ein Dirigat, das Puccinis Partitur weder sentimental glättete noch überdramatisierte, sondern sie in ihrer ganzen farblichen und seelischen Spannweite zum Leuchten brachte.

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Insgesamt hinterließ die Produktion einen musikalisch glänzenden, szenisch aber zu blassen Eindruck. Die Musik Puccinis leuchtete warm, reich und bewegend, während das Bühnengeschehen in seiner Schlichtheit wie ein Rahmen wirkte, der das Zentrum freigibt: die Schönheit des Klangs, den Atem der Liebe, das Verlöschen eines Lebens.