Abschiebepraxis
Im Jahr 1885 wurde die 23-jährige Viktoria Pfister von den Gemeindeverantwortlichen meiner Heimatgemeinde Schlins an einen Auswanderungsagenten übergeben, der sie nach Le Havre brachte, wo sie ein Schiff nach Amerika bestieg. Sie war 1862 als Tochter einer Vagabundin in einem Wald auf Schlinser Gemeindegebiet zur Welt gekommen und besaß deshalb das Heimatrecht, weshalb sie auch der örtlichen Armenkasse zur Last fiel. Im Jahr zuvor hatte sie krankheitshalber ihre Arbeit in der örtlichen Fabrik verloren und war kurz darauf zweier kleiner Gesetzesübertretungen überführt worden, worauf die unliebsame Mitbürgerin vom Gemeindevorstand genötigt wurde, ihrer Auswanderung zuzustimmen. Ein Schweizer Auswanderungsagent verpflichtete sich, sie persönlich an Bord des Schiffes zu bringen, seinen Lohn erhielt er erst, nachdem dieses mitsamt der Unglücklichen abgelegt hatte. Lieber leistete man eine Einmalzahlung, da man der Gemeindekasse dadurch längere Versorgungskosten ersparte. Führt man sich vor Augen, was für sprichwörtliche Haifischbecken die Ankunftshäfen für unerfahrene Ankömmlinge im 19. Jahrhundert waren und wie schwierig und gefährlich der Neuanfang selbst für starke, tüchtige und freiwillige Auswanderer war, kann man ermessen, dass die junge Frau mit großer Wahrscheinlichkeit in den sicheren Tod geschickt wurde. Eine solche Abschiebung war gängige Praxis, erfolgte gemäß geltenden Gesetzen und die Verantwortlichen handelten ganz im Sinne des Gemeinwohles. Klingelt‘s?
Dieter Petras, Gemeindearchivar, Schlins