Gesellschaftsspiele
Zum Leserbrief „Beispiellose wirtschaftliche Bedrohung“ von IV-Präsident Martin Ohneberg, VN vom 16. 4. :
Herr Präsident Ohneberg, Ihre Beurteilung wirtschaftlicher Folgen eines totalen sofortigen Gasboykotts kaufe ich Ihnen ab, zumal auch andere Analysen einen Wirtschaftsrückgang ähnlich wie in einem Coronajahr befürchten, was natürlich happig ist. Bezüglich der Wirkung auf Putin orientiere ich mich aber – mit Verlaub – nicht an einer Industriellenvereinigung, die den kollektiven Fehleinschätzungen noch eine Krone aufgesetzt hat. Der Auftritt des Herrn Leitl mit Putin bleibt ein zeitgeschichtliches herausragendes Musterbeispiel für wirtschaftlich motivierte beschämende Anbiederung an Gewaltherrscher.
Die EU sollte nebst gemeinsamer Außen- und Verteidigungspolitik dringend auch einige Energiekompetenzen übernehmen, um gestärkt aufzutreten und gegen allfällige Schwankungen abzufedern. Allerdings dürfte man die Schäden selbstverschuldeter Energieabhängigkeit einzelner Staaten genauso wenig wie fahrlässige Staatsverschuldung auf die Staatengemeinschaft umwälzen. In der Neuordnung Europas wird es sich wohl nicht mehr spielen, dass sich ein Land als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer im Schutz anderer verkrümelt und diese für seine Sicherheit zahlen lässt.
Die beliebten österreichischen Gesellschaftsspiele „Neutralität“, „Brückenbauer“ und „Wandel durch Handel“ werden von maßloser Selbstüberschätzung begleitet und verlocken dazu, mit Eigeninteressen unsolidarisch auszuscheren. Das mag in Friedenszeiten noch angehen, aber im angebrochenen epochalen europäischen Freiheitsringen fällt es uns letztlich trotz kurzfristiger Vorteile auf den Kopf. Österreichs Wirtschaftspolitik trägt ein gerütteltes Ausmaß an Mitschuld an der Misere.
Gerald Grahammer, Lustenau