Gewissensbisse

Leserbriefe / 14.07.2022 • 19:17 Uhr

Unabhängig von der Rechtslage ist die Abtreibungsfrage eine ewige Gewissensfrage. Der Haken an der hochstilisierten „selbständigen Entscheidung“ einer Frau ist nicht nur, dass der Dritte im Bunde (bzw. Bauche) nicht gefragt werden kann, mir fehlt auch der Zweite. Der ansonsten allgegenwärtige Generalverdacht männlicher Machtbeherrschung und Gängelung wird hier ausgeklinkt. Dabei ist es die Frau, die unmittelbar ein Stück ihrer selbst sowie ein eigenständiges Lebewesen aus ihrem Körper loslösen und das psychisch verkraften muss. Es wird nie erhoben werden können, wie viele es nachträglich bereuen. Der Kindesvater kann es sich leichter machen, aber seine klare Haltung hätte vielfach entscheidenden Einfluss für den Lebenserhalt. Auf politischer Ebene kommen Gewissensbisse selbstverständlich auch zum Tragen, manchmal recht unerwartet. Als der deutsche Bundestag 1974 unter SPD-Federführung die Fristenlösung beschloss, verließ Willi Brandt vor der Abstimmung den Saal. Er sei ein uneheliches Kind und wäre bei Legalisierung nicht geboren worden, begründete er. Würden Sie ihm posthum auch „Schande“, „ideologische Mottenkiste“ und „Frauenfeindlichkeit“ entgegenschleudern wie ihren ÖVP-Landtagskolleginnen, Frau Sprickler-Falschlunger? Nur weil diese ebenso wie eine Bevölkerungs- und Ärztemehrheit vor einer Abtreibungsabteilung mitten im normalen, lebenserhaltenden Krankenhausgetriebe zurückschrecken? Das Unrechtsbewusstsein ver-
schwindet durch eine Platzierung in der Normalität nicht, falls dies ein Nebeneffekt sein sollte.

Gerald Grahammer, Lustenau