Inflationäre
Spaltungen

Leserbriefe / 02.03.2023 • 17:32 Uhr

Der Begriff Spaltung ist zum inflationären Modewort mutiert. Dabei sind es meist die anderen, denen wegen ihrer Ansichten oder ihres Andersseins Spaltungspotential unterstellt wird. Wenn 40 % für ein Impfpflicht sind, 30 % dagegen, und der Rest im Seelenfrieden der Meinungslosigkeit verbleibt, so begründet das noch lange keine Spaltungsdiagnose ebenso vergangene knappe Volksabstimmungsergebnisse wie bei Zwentendorf. In modernen Gesellschaften, die sich durch Mobilität, vielgestaltige Bildungswege und Lebensrealitäten, Wertepluralität, etc. auszeichnet, ist sozialer Konsens eine Mär und Wechselwähler Ausdruck eine Lockerung traditioneller Parteibindungen, fallweise ein Denkzettel für politische Entscheidungen in Pandemiezeiten. Die Zahl kontroversieller Auffassungen und die Wahrnehmung vermeintlicher Risse wird hoch bleiben. Entscheidend ist aber, wie beunruhigend oder normal diese auf verschiedene Bevölkerungskreise wirken, extreme Gesellschaftsränder einmal ausgenommen. Es gilt, dass ein Konflikt, der spaltet, eine längere Dauer haben bzw. angebahnt, vorbereitet, gepflegt und aufrechterhalten werden muss. Für Spaltungen, die diesen Namen verdienen, eignen sich aber Konflikte, die sich auf nicht verhandelbare Dinge wie religiöse Überzeugungen oder „politische Religionen“ mit Absolutheitsanspruch beziehen. Nicht ein (verbales) „Zuschütten von Gräben“, so der Bundeskanzler zur Pandemie-Aufarbeitung, oder ein voreiliges Prognostizieren von Spaltungen ist bei gesellschaftlichen Entwicklungen notwendig, sondern der Versuch, ihre Bedeutung zu unterscheiden. Der Anfang kann ein überlegterer Sprachgebrauch sein.

Dr. Günter Felder, Dornbirn